3. Innergermanische Auseinandersetzungen
4. Rom, Gallien und Germanien unter dem Principat des Tiberius (14-37 n.Chr.)
4.1. Tiberius' Germanienpolitik
4.2. Der Aufstand in Gallien (21 n.Chr.)
4.3. Der Aufstand der Friesen
(28
n.Chr.)
5. Rom und Germanien unter dem Principat des Caligula (37 41 n.Chr.)
5.1. Caligulas Germanienpolitik
5.2. Der Germanienfeldzug
Caligulas
6. Rom und Germanien unter dem Principat des Claudius (41-50 n.Chr.)
6.1. Claudius' Germanienpolitik
6.2. Römische Siege in
Germanien
7. Rom und Germanien unter dem Principat Neros (54-68
n.Chr.)
Das Thema dieser Hausarbeit sind die Beziehungen zwischen Rom und
Germanien in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Chr., d.h.
unter
der Regierung der Principes Tiberius, Caligula, Claudius und Nero. Eine
sinnvolle genauere zeitliche Begrenzung sind auf der einen Seite die
Abberufung
des Germanicus durch Tiberius und die Beendigung der erfolglosen
Feldzüge
im rechtsrheinischen Germanien im Jahre 16 n.Chr., auf der anderen
Seite
die Aufstände des Galliers J. Vindex und der germanischen Bataver
in den Jahren 68 bis 70. Da diese Kette von Aufständen jedoch ein
zu komplexes Thema ist und sie auch im Gegensatz zu der Mehrzahl der
vorhergehenden
Aufstände eher den Charakter eines bellum internum, also eines
Bürgerkrieges
in Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um das Principat, als den
eines externen Krieges mit fremden Völkerschaften trägt, soll
dieser Zeitraum hier ausgeklammert bleiben. Die behandelte Epoche endet
daher mit dem Principat Neros und, bezogen auf Germanien, mit der
Vertreibung
der Ampsivarier aus dem rechtsrheinischen Militärland im Jahre 58
n.Chr.
Als Quelle für diese Zeit dienen vor allem die "Annalen" des Tacitus (mit einer Lücke für die Jahre 38 bis 46) und einige Stellen in Suetons "Leben der Caesaren" und Cassius Dios "Römischer Geschichte". Ein grundsätzliches Problem ist dabei, daß auch Tacitus nur über Aufstände und ähnliche Vorkommnisse berichtet, nicht über die allgemeinen Beziehungen zwischen Rom und Germanien in dieser Zeit, z.B. was Handel etc. betrifft. Diese literarischen Quellen werden in ihrer Aussage ergänzt durch verschiedene Münzen aus der Zeit von Caligula und Claudius und durch archäologische Erkenntnisse über Bau und Nutzung von Kastellen und Legionslagern an der römisch-germanischen Grenze.
Aufgrund des beschränkten Quellenmaterials sind die Ziele dieser Hausarbeit vor allem die Darstellung der Aufstände und der militärischen Aktionen Roms in Gallien und Germanien (meist in Anlehnung an Tacitus) und daneben der Versuch, eine Grundstruktur der römisch-germanischen Beziehungen im 1. Jahrhundert n.Chr. zu finden. Interessant ist daher beispielsweise die Frage, ob die römische Germanienpolitik als offensiv bzw. imperialistisch oder als defensiv zu betrachten ist. Eine kritische Hinterfragung der taciteischen Darstellung muß dabei wegen der fehlenden Parallelüberlieferung weitgehend wegfallen.
Nach der Varusniederlage (9 n.Chr.), bei der drei römische
Legionen durch die Cherusker unter Arminius vernichtet wurden,
unternahmen
Tiberius und Germanicus in den Jahren 10 bis 15 n.Chr. erneute
Vorstöße
in das rechtsrheinische Germanien, wobei Germanicus zwar bis an die
Weser
vorstieß, aber keine Unterwerfung der Germanen erreichen konnte.
Im Jahre 16 n.Chr. wurde Germanicus dann durch Tiberius, der inzwischen
Princeps geworden war, aus Germanien abberufen. Diese Abberufung
bedeutete
gleichzeitig das endgültige Ende der Versuche, Germanien bis zur
Elbe
zu erobern.
Tacitus lehnt die von Tiberius für die Abberufung gegebenen Gründe als "Ausflüchte" ab und meint, daß "Germanicus quamquam fingi ea seque per invidiam parto iam decori abstrahi intellegerat" (Tac. ann. 2,26,5). Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Tiberius aufgrund der Erfolglosigkeit der Offensiven einsah, "daß es militärische Macht und finanzielle Möglichkeiten des Imperiums offenbar überstieg, das Gebiet zwischen Rhein und Elbe zu erobern und zu behaupten".(1) Dazu kam noch, daß sich auch eine wirtschaftliche Ausnutzung Germaniens nicht rentieren würde, so daß der hohe Aufwand auch dadurch nicht gerechtfertigt werden konnte.(2)
Stattdessen hielt sich Tiberius an das "consilium coercendi intra terminos imperii", einen Rat, den Augustus in seinem Testament gegeben hatte (Tac. ann. 1,11,4; vgl. Dio 56,33,5 (Xiphilinos 120,7-121,33)). Anstelle der Eroberungsversuche hielt er diplomatische Einflußnahme auf die rechtsrheinischen Germanenstämme und das Vertrauen auf die innere Uneinigkeit der Germanen für effektiver, denn "se novies a divo Augusto in Germaniam missum plura consilio quam vi perfecisse. (...) posse et Cheruscos ceterasque rebellium gentes, quoniam Romanae ultioni consultum esset, internis discordiis relinqui" (Tac. ann. 2,26,3).
Nach dem Abbruch der Offensive verlief die Grenze zwischen dem römischen und dem "freien" Germanien also dort, wo sie seit Caesar war, nämlich weitgehend am Rhein. Die Römer waren jetzt allerdings in einer sehr viel günstigeren Ausgangsposition, weil seit der Varusniederlage acht Legionen rund ein Drittel des gesamten römischen Heeres direkt am Rhein stationiert waren und damit sowohl bei Aufständen im römisch beherrschten Gallien als auch bei Auseinandersetzungen mit rechtsrheinischen Germanenstämmen leicht eingreifen konnten. Die Rheingrenze selbst war inzwischen durch eine Kette von Militärlagern gut befestigt, wobei ein Teil dieser Lager schon bei den Germanienoffensiven zwischen 12 v. und 16 n.Chr. als Stützpunkt gedient hatte, ein Teil aber auch im Zusammenhang mit der neuen defensiven Germanienpolitik ausgebaut bzw. neu angelegt wurde.
Die wichtigsten dieser Stützpunkte, die meist an strategisch wichtigen Stellen gegenüber Flußmündungen etc. lagen, waren von der Rheinmündung flußaufwärts gesehen: das Legionslager Noviomagus (Nijmwegen) südlich des römisch beherrschten Batavergebietes; das Legionslager Vetera (Xanten) gegenüber der Lippemündung; das Legionslager Novaesium (Neuß), das zwischen 30 und 40 n.Chr. eine der Legionen aus Köln aufnahm; das Legionslager Köln, das bis 30/40 n.Chr. bestand, während die Stadt 50 n.Chr. zur Veteranenkolonie Colonia Claudia Ara Agrippinensium wurde; das Legionslager Bonna (Bonn), das die zweite der Kölner Legionen aufnahm; das Auxiliarkastell Confluentes (Koblenz) an der Moselmündung, das entweder während der Offensiven nach der Varusniederlage oder unter dem Principat des Tiberius errichtet wurde; das Legionslager Mogontiacum (Mainz), in dessen Nähe seit 10 v.Chr. eine Schiffsbrücke über den Rhein führte; ein Brückenkopf gegenüber von Mainz, der die wichtige Mainebene und die Wetterau beherrschte und der gesichert wurde durch ein Kastell direkt an der Brücke (in Kastel) und das Kastell Aquae Mattiacorum (Wiesbaden); das Kastell Hofheim (15 km östlich von Wiesbaden), das vermutlich im Zusammenhang mit Caligulas Germanienfeldzug errichtet wurde; das Legionslager Argentoratum (Straßburg); das Legionslager Vindonissa (Windisch, Schweiz).(3)
Jenseits dieser Befestigungslinie kontrollierte das römische Heer aber auch einen rechtsrheinischen Uferstreifen, in dem z.B. die Ansiedlung germanischer Stämme verboten war. Außerdem standen einige Germanenstämme in unterschiedlicher Weise unter römischer Herrschaft, so u.a. die Bataver (nördlich der Rheinmündung) und Mattiaker (um Wiesbaden), die Hilfstruppen stellen mußten (vgl. Tac. germ. 29), und die Friesen (an der holländischen Nordseeküste), die Tribut zahlten. Der Machtbereich des römischen Imperiums erstreckte sich also nicht nur auf linksrheinisches Gebiet, sondern durch die Abhängigkeit einiger Stämme und vor allem durch die militärischen Eingreifmöglichkeiten auch auf das rechtsrheinische Germanien.
Schon kurze Zeit nach der Aufgabe der offensiven Germanienpolitik
zeigte sich, daß Tiberius erfolgreich war mit seiner Strategie,
die
Germanen durch ihre eigene Uneinigkeit außer Gefecht zu setzen.
Im
Jahre 17 n.Chr. brach ein Krieg zwischen den Cheruskern unter Arminius
und den Markomannen unter Marbod, d.h. zwischen den beiden
mächtigsten
germanischen Stämmen dieser Zeit, ein Krieg aus: "nam discessu
Romanorum
ac vacui externo metu, gentis adsuetudine et tum aemulatione gloriae,
arma
in se verterant" (Tac. ann. 2,44,2). Eine Schlacht zwischen den Gegnern
endete unentschieden, jedoch zog sich Marbod danach in sein
angestammtes
Land (das heutige Böhmen) zurück, was dem Eingeständnis
einer Niederlage gleichkam.
Marbod "misit (...) legatos ad Tiberium oraturos auxilia. responsum est non iure eum adversus Cheruscos arma Romana invocare, qui pugantis in eundem hostem Romanos nulla ope iuvisset" (Tac. ann. 2,46,5). Der römische Princeps setzte seine Politik, die Germanen durch Kämpfe untereinander und ohne direktes römisches Eingreifen zu entmachten, also auch hier konsequent fort.
Zwei Jahre später verdrängte der früher selbst von Marbod vertriebene Adlige Catualda den Markomannenkönig auch aus dessen Stammland, eroberte die Hauptstadt und machte sich selbst zum König. Marbod wandte sich daraufhin wieder hilfesuchend an Tiberius und erhielt von diesem ein Exil in Ravenna zugewiesen, jedoch keine weitergehende Unterstützung z.B. zur Rückeroberung seines Landes. Auch Catualda konnte sich nicht lange an seiner neuen Position halten, er wurde von den Hermunduren besiegt und ging ins Exil nach Forum Julium, das heutige Fréjus (Tac. ann. 2,62f.).
Die alten Gegner der Markomannen, die Cherusker unter Arminius, verloren in der Folgezeit ebenfalls an Bedeutung. Zunächst wurde im Jahre 21 Arminius von seinen Verwandten ermordet: "ceterum Arminius abscedentibus Romanis et pulso Maroboduo regnum adfectans libertatem popularium adversam habuit, petitusque armis cum varia fortuna certaret, dolo propinquorum cecidit" (Tac. ann. 2,88,2).
In den folgenden Jahrzehnten erwies sich wieder der unter Tiberius eingeschlagene Kurs, die Germanen ihren eigenen Auseinandersetzungen zu überlassen und auf diese Weise zu entmachten, als richtig, denn nach Arminius' Tod brachen bei den Cheruskern Auseinandersetzungen aus, die den Stamm offensichtlich in einen desolaten Zustand versetzten: "eodem anno (i.e. 47) Cheruscorum gens regem Roma petivit, amissis per interna bella nobilibus" (Tac. ann. 11,16,1). Der Princeps Claudius schickte daraufhin den in Rom aufgewachsenen und romfreundlich eingestellten Neffen des Arminius, Italicus, mit Geld und einer Leibwache nach Germanien. Dort hatte er allerdings bald um die Bewahrung seiner Macht zu kämpfen, blieb zunächst Sieger, wurde vertrieben, kehrte aber mit langobardischer Hilfe zurück und "per laeta per adversa res Cheruscas afflictabat" (Tac. ann. 11,17,3).
Aus dieser Schilderung des Tacitus ergibt sich nicht, wie groß die Macht Roms im rechtsrheinischen Germanien durch die Entsendung des Italicus wurde; es ist aber als sicher anzunehmen, daß Claudius sich von dieser Entscheidung auch Vorteile für die römische Seite, d.h. wachsenden Einfluß auf die Cherusker, versprach.
Nach der Ermordung des Arminius verloren die Cherusker durch ihre Machtkämpfe die einstmals führende Position in Germanien; stattdessen gewannen die etwas weiter südlich wohnenden Chatten immer mehr an Einfluß, wie auch Tacitus in seiner "Germania" andeutet: "in latere Chaucorum Chattorumque Cherusci nimiam ac marcentem diu pacem inlacessiti nutrierunt. (...) ita qui olim boni aequique Cherusci, nunc inertes ac stulti vocantur; Chattis victoribus fortuna in sapientiam cessit" (Tac. germ. 36).
In den zwei Jahrzehnten seiner Regierung hielt sich Tiberius konsequent
an den mit Germanicus' Abberufung einmal eingeschlagenen Kurs. Er
unternahm
keine weiteren Eroberungsversuche im rechtsrheinischen Germanien,
sondern
beschränkte sich strikt auf die Defensive, was auch einen Ausbau
der
Verteidigungsanlagen am Rhein bedeutete. Außerdem vertraute er
darauf,
daß die Germanen sich in ihrer Uneinigkeit gegenseitig
schwächen
würden, und lehnte daher z.B. eine Unterstützung Marbods ab
(s.o.).
Im Jahre 21 n.Chr. wurde zwar ein Aufstand in Gallien niedergeschlagen, sieben Jahre später unternahm er aber nichts dagegen, daß sich die nordöstlich des Rheinmündungsgebietes siedelnden Friesen mit einem Sieg über römische Truppen von der römischen Besatzung befreiten. "In den späteren Regierungsjahren des Kaisers Tiberius ist die Politik am Rhein durch eine strikte Defensive und einen Mangel an Initiative gekennzeichnet, der wohl nur dadurch verständlich wird, daß (...) Tiberius (...) an der Regierung nur noch geringen Anteil nahm".(4) Die Untätigkeit an der Rheingrenze ist also nicht nur zurückzuführen auf Tiberius' grundsätzliche Germanienpolitik, sondern auch auf eine allgemeine Passivität seinerseits.
21 n.Chr. kam es bei mehreren gallischen Stämmen zu
Aufständen
gegen ihre schlechte wirtschaftliche und finanzielle Situation. Die
Unruhen
wurden bei einem ersten Ausbruch bei zwei Stämmen an der Loire
(Andecaver
und Turonen) rasch durch römisches Militär niedergeworfen
(Tac.
ann. 3,41), griffen dann aber auf die Treverer und Haeduer über.
Die
dortigen Anführer waren Julius Florus und Julius Sacrovir, beides
Stammesadlige mit römischem Bürgerrecht also gegenüber
der
restlichen Bevölkerung Privilegierte. Dennoch ist die
Begründung
nicht stichhaltig, der Aufstand sei auf die Erbitterung der
privilegierten
Treverer über die Einschränkung ihrer eigenen Rechte durch
die
Römer(5)
zurückzuführen,
weil auch in den besetzten Gebieten die Führungsrolle des
alteingesessenen
Stammesadels nicht angegriffen wurde und diese sogar weitere
Privilegien
erhielten, wie z.B. das römische Bürgerrecht bei der
Ausübung
bestimmter Ämter in der lokalen Selbstverwaltung.
Florus und Sacrovir "per conciliabula et coetus seditiosa disserebant de continuatione tributorum, gravitate faenoris, saevitia ac superbia praesidentium" (Tac. ann. 3,40,3). Die entscheidenden Gründe für die Aufstände waren also aller Wahrscheinlichkeit nach die zu hohen Abgaben, die die Römer von den gallischen Stämmen forderten. Diese Abgaben waren Tribute, die ihnen zur Finanzierung der Feldzüge des Germanicus auferlegt, nach deren Ende aber nicht abgeschafft worden waren,(6) in gewissem Sinne also außerordentliche Belastungen, die über die normalen Verpflichtungen der unterworfenen Bevölkerung hinausgingen.
Florus veranlaßte zunächst eine in römischen Diensten stehende treverische Reiterabteilung, römische Kaufleute zu ermorden, was wiederum auf die wirtschaftlichen Ursachen des Aufstands hinweist. Die Aufständischen, laut Tacitus "vulgus obaeratorum aut clientium" (Tac. ann. 3,42,1), wurden von den Legionen des obermanischen Heeres unter C. Silius, des niedergermanischen Heeres unter C. Visellius Varro, und einer Gruppe romtreuer Treverer unter Julius Indus auseinandergetrieben, Florus beging daraufhin Selbstmord (Tac. ann. 3,42). Der Haeduer Sacrovir besetzte Augustodunum (Autun) und stellte dort eine allerdings schlecht bewaffnete und unerfahrene Truppe aus der dort studierenden gallischen Jugend zusammen. Auch diese Truppe wurde von zwei Legionen des obergermanischen Heeres besiegt, Sacrovir beging ebenfalls Selbstmord (Tac. ann. 3,43 und 3,45f.).
In Rom wurde die Bedeutung des Aufstands mit Behauptungen, es hätten sich ganz Gallien und dazu Germanien und Spanien erhoben, weit übertrieben von Gegnern des Princeps, die ihm seine scheinbare Untätigkeit vorwarfen. Tiberius zeigte sich aber der Lage gewachsen und berichtete dem Senat erst nach der Niederschlagung des Aufstands von den Geschehnissen, um zu zeigen, daß für Rom keine Gefahr bestanden hatte (Tac. ann. 44 und 47).
Der Aufstand scheiterte neben der relativ geringen Beteiligung (nicht einmal alle Treverer standen auf Florus' Seite) insbesondere daran, daß es "keine aufeinander abgestimmte Aktion (war), so daß die Stämme einzeln (...) besiegt werden konnten".(7) Aus diesem Grund bedeutete er für die römische Herrschaft in Gallien auch zu keiner Zeit eine ernsthafte Gefährdung, wie dies laut Tacitus jedoch von vielen behauptet wurde. Selbst wenn er sich in erster Linie gegen die außergewöhnlich hohen Tribute richtete, strebten die Führer des Aufstands aber auch eine völlige Befreiung von der römischen Herrschaft an: die Situation sei "egregium resumendae libertati tempus" (Tac. ann. 3,40,3).
Die Ereignisse zeigen also auch, daß die Romanisierung Galliens noch nicht so weit fortgeschritten war, daß beispielsweise die Anwesenheit eines Heeres unnötig geworden wäre. Auch aus diesem Grund wäre also aus römischer Sicht eine Okkupation Germaniens und die dadurch notwendige Verlegung der Rheintruppen an die Elbe unklug gewesen.
Daraufhin zog das niedergermanische Heer unter L. Apronius mit obergermanischer Verstärkung gegen die Friesen, erlitt aber aufgrund schlechter Angriffstaktik große Verluste (Tac. ann. 4,73). "clarum inde inter Germanos Frisium nomen, dissimulante Tiberio damna, ne cui bellum permitteret" (Tac. ann. 4,74,1); er verzichtete also auf einen Vergeltungsfeldzug, wodurch die Friesen für fast 20 Jahre von der römischen Besatzung befreit waren.
In einem Satz, der sich nur auf den Aufstand der Friesen beziehen kann, warf Sueton Tiberius neben seiner allgemeinen Untätigkeit auch vor, daß er nichts gegen die Gefährdung des Reiches u.a. durch die Germanen unternahm: "regressus in insulam (Capri; i.e. 27 n.Chr.) rei publicae quidem curam usque adeo abiecit, (...) Armeniam a Parthis occupari, Moesiam a Dacis Sarmatisque, Gallias a Germanis vastari neglexerit" (Suet. Tib. 41).
Gegen diese zumindest in bezug auf die Ereignisse in Germanien weit übertriebene Darstellung ist einzuwenden, daß der Aufstand eines doch relativ kleinen Stammes wie der Friesen weder für Gallien noch für die römische Herrschaft in diesem Gebiet eine große Gefahr darstellte und entsprechend auch als unwichtig angesehen wurde. Die Römer waren in diesen Jahren weit stärker mit ihren großen inneren Problemen beschäftigt, weil Tiberius sich aus der Regierung fast völlig zurückgezogen hatte und der eigentliche Machthaber in Rom der Prätorianerpräfekt Seianus war (vgl. Tac. ann. 4,74).
Es kann insofern nicht von einer Germanienpolitik Caligulas gesprochen
werden, als kein Konzept existierte. Er beschränkte sich weder auf
die Defensive, wie es sein Vorgänger Tiberius getan hatte, noch
nahm
er die ernsthafte Offensive wie unter dem Principat des Augustus wieder
auf. Dennoch führte Caligula einen Germanienfeldzug durch, den er
zeitweise sogar persönlich leitete; unklar ist dabei allerdings,
ob
dieser Feldzug ein echter Versuch war, Teile Germaniens zu erobern,
oder
ob es ein reines Schauspiel war. Auf jeden Fall aber wurde diese
Unternehmung
durch die Propaganda als großer Erfolg dargestellt, um seinen
eigenen
militärischen Ruhm zu vergrößern.
Unter dem Principat des Caligula gab es für die Römer keine Probleme mit Aufständen gallischer oder germanischer Stämme, stattdessen aber eine Verschwörung im obergermanischen Heer gegen den Princeps. Das Hauptproblem für die gesamte Zeit ist dabei die schlechte Quellenlage, weil die Annalen des Tacitus in der fraglichen Zeit eine Lücke aufweisen.
Der Feldzug ins rechtsrheinische Germanien wurde seit 38 geplant(8)
und von langer Hand vorbereitet. Neben den dort stationierten acht
Legionen
wurden zwei neue Legionen aufgestellt(9)
und weitere Truppen zusammengezogen (vgl. Suet. Cal. 43 und Dio
59,22,1).
Sueton nennt die Absicht, die von den Batavern, einem germanischen Stamm, gestellte Leibgarde zu ergänzen, als Grund für diesen Feldzug (Suet. Cal. 43), während Dio meint, Caligula habe das reiche Gallien ausplündern wollen, um seine eigenen leeren Kassen aufzubessern (Dio 59,21,2). Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Caligula in erster Linie aus propagandistischen Gründen den Anspruch auf das rechtsrheinische Germanien wieder aufnahm, der seit den Germanienoffensiven um Christi Geburt bestand und im Bewußtsein der Bevölkerung immer noch lebendig war. Sein Ziel war es jedoch nicht, Germanien jetzt tatsächlich zu erobern, er versprach sich von einem solchen Feldzug hauptsächlich den militärischen Ruhm, der ihm bisher noch fehlte. Germanien bot sich in diesem Zusammenhang auch schon dadurch an, daß auch Caligulas Vater Germanicus und Großvater Drusus vor allem in diesem Gebiet aktiv gewesen waren.(10)
Nach den umfangreichen Vorbereitungen brach Caligula im September 39 n.Chr. plötzlich nach Mainz auf.(11) Der Grund für diesen plötzlichen Aufbruch war zum einen ein Raubzug der Chatten nach Gallien, zum anderen aber vor allem das Bekanntwerden einer Verschwörung des obergermanischen Legaten Cn. Lentulus Gaetulicus gegen den Princeps, die u.a. bezeugt ist durch ein in den Arvalakten erwähntes Dankopfer "... ob detecta nefaria con[silia in C. Germani]cum Cn. Lentuli Gaet[ulici ----] ..." vom 27. Oktober 39 n.Chr.(12) Diese Verschwörung war insbesondere deshalb gefährlich, weil Gaetulicus beim Heer sehr beliebt war und deshalb die Gefahr bestand, daß sich auch das Rheinheer, d.h. rund ein Drittel der gesamten römischen Armee, gegen Caligula erhob. Die Verschwörung wurde durch die Hinrichtung des Anführers und weitere Disziplinarmaßnahmen niedergeschlagen: "Lentulum Gaetulicum (...) occidi Caius iussit, quod militum benevolentiam sibi parasset" (Dio 59,22,5; aus Gründen leichterer Lesbarkeit wird Dio hier auf Latein zitiert), weitere Offiziere der Legionen wurden entlassen (Suet. Cal. 44).
Inwieweit bei den folgenden Unternehmungen, an denen Caligula bis zum Sommer 40 n.Chr. persönlich teilnahm, ernsthaft gegen Chatten oder andere Germanenstämme vorgegangen wurde, ist aus der antiken Literatur nicht zu entnehmen, da der Feldzug völlig verzerrt dargestellt wird: "Mox deficiente belli materia paucos de custodia Germanos traici occulique trans Rhenum iussit ac sibi post prandium quam tumultuosissime adesse hostem nuntiari. quo facto proripuit se cum amicis et parte equitum praetorianorum in proximam silvam, truncatisque arboribus et in modum tropaeorum adornatis" (Suet. Cal. 45,1). Eine ähnliche Aussage trifft auch Cassius Dio: "In Galliam cum venisset, hostium terram multo maleficio infestavit, sed ut paululum ultra Rhenum progressus erat, inde statim reversus est" (Dio 59,21,3)
Das Kastell Hofheim östlich von Wiesbaden, das etwa 40 n.Chr. errichtet wurde(13) und daher mit Caligulas Feldzug zusammenhängen muß, weist allerdings darauf hin, daß auch diese vom Princeps selbst geleitete Aktion mehr war als ein reines Schauspiel zum Vergnügen Caligulas mit einigen kurzen Ausflügen östlich des Rheins; allerdings gibt es keine Hinweise auf erzielte militärische Erfolge bis zur Abreise Caligulas aus Germanien. Der Princeps feierte trotzdem nach seiner Rückkehr nach Rom einen Triumph für die angebliche "Eroberung Germaniens", und der Prätor und spätere Princeps Vespasian beantragte außerordentliche Spiele "pro victoria (...) Germanica" (Suet. Vesp. 2,3). Beides diente wie der gesamte Feldzug vor allem der Vergrößerung des militärischen Ruhms des auf diese Weise (im Gegensatz beispielsweise zu seinem Vorgänger Tiberius) bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht hervorgetretenen Princeps Caligula.
Daneben zeigt insbesondere der unter Caligula herausgegebene sog. "Germanicus-Dupondius"(14) den krassen Widerspruch zwischen dem römischen Anspruch, Germanien erobern zu wollen und zu können, und der Realität, in der es mit zunehmender Beschränkung auf die Defensive immer unmöglicher wurde, diesen Anspruch in die Wirklichkeit umzusetzen. Der Dupondius trägt auf der Vorderseite das Abbild von Caligulas Vater Germanicus in der Triumphalquadriga und die Umschrift "GERMANICVS CAESAR", auf der Rückseite wiederum Germanicus, diesmal stehend, in militärischer Tracht und mit zum Gruß erhobener rechter Hand, und die Beschriftung im Feld "SIGNIS-RECEPT(IS) / DEVICTIS-GERM(ANIS) / S-C".
Diese Gedenkmünze sollte also an Germanicus erinnern, der nach der Varusschlacht zwischen 10 und 15 n.Chr. mehrere Züge im rechtsrheinischen Germanien bis zur Weser unternahm und dabei "SIGNIS-RECEPT(IS)" zwei 9 n.Chr. verlorene Feldzeichen zurückgewann (Tac. ann. 1,60; 2,25). Indem Caligula an Germanicus erinnerte und behauptete, dieser habe die Germanen völlig besiegt ("DEVICTIS-GERM(ANIS)"), beanspruchte er auch für seine eigenen Unternehmungen, daß es ernsthafte Aktionen seien mit dem Ziel, erneut ganz Germanien zu erobern. Selbst wenn Caligulas Feldzug mehr war als ein Schauspiel, wie es von Sueton beschrieben wird, beschränkten sich die Aktionen aber dennoch auf ein sehr kleines Gebiet, nämlich wahrscheinlich die Wetterau. Von einer "Eroberung" Germaniens kann also in keinem Fall die Rede sein. Der Widerspruch zwischen der Siegesideologie auf der einen und den tatsächlichen Aktionen auf der anderen Seite wird damit unter dem Principat Caligulas besonders deutlich.
Claudius war der einzige Princeps in der ersten Hälfte des
1. Jahrhunderts n.Chr., der das Gebiet des römischen Imperiums im
Nordwesten tatsächlich über die bisherigen Grenzen hinaus
erweiterte.
Er nahm jedoch nicht die Offensiven im rechtsrheinischen Germanien
wieder
auf, die unter Tiberius abgebrochen worden waren, sondern konzentrierte
sich auf das zweite noch nicht eroberte Gebiet in dieser Region, d.h.
Britannien.
Sein Vorgänger Caligula hatte zwar ebenfalls im Anschluß an
seinen Germanienfeldzug eine Expedition an die Kanalküste
unternommen,
die aber bedeutungslos war und nicht einmal britannischen Boden
berührte
(vgl. Suet. Cal. 44 u. 46; Dio 59,21,3).
Um die Bildung einer zweiten Front neben dem Hauptbetätigungsfeld Britannien zu vermeiden, beschränkte sich Claudius in Germanien auf die mehrfache Entsendung von Truppen gegen germanische Stämme, die Raubzüge ins römische Germanien und nach Gallien unternommen hatten.
Selbst wenn in der Münzpropaganda weiterhin mehrfach auf die "Eroberung Germaniens" hingewiesen und dieser Anspruch demnach also nicht aufgegeben wurde, war auch Claudius' praktische Germanienpolitik entsprechend der seit 17 n.Chr. vorherrschenden Grundlinie defensiv orientiert. Mit "defensiv" ist auch hier gemeint, daß die Eroberung des rechtsrheinischen Germanien nicht in Angriff genommen wurde, daß Übergriffe germanischer Stämme auf römisches Territorium (also Gallien und die germanischen Militärbezirke links des Rheins) nicht geduldet und ggf. in Form von militärischen Aktionen geahndet wurden. Insgesamt aber reagierte Rom energischer auf germanische Angriffe auf die römische Herrschaft in diesem Raum als es beispielsweise unter Tiberius der Fall war, der auch den völligen Abfall der Friesen geduldet hatte.
Echte Erfolge der unter Caligula begonnenen Germanienfeldzüge
stellten sich erst während der Regierungszeit des neuen Princeps
Claudius
im Jahre 41 n.Chr. ein: "eodem tamen anno (i.e. 41) Sulpicius Galba
Chattos
vicit, ac P. Gabinius Chaucos: qui inter alia, quae laudi ipsi essent,
militarem aquilam, quae sola a clade Variana apud illos adhuc
supererat,
recuperavit" (Dio 60,8,7).
Nach der Rückkehr Caligulas nach Rom im Jahre 40 n.Chr. ging also der neue obergermanische Befehlshaber, der spätere Princeps Ser. Sulpicius Galba, gegen die Chatten vor und besiegte sie 41 n.Chr. Daneben diente dieser Feldzug ebenfalls der Disziplinierung des obergermanischen Heeres nach der mißglückten Verschwörung des Gaetulicus.(15) Im selben Jahr wurden auch die "Cauchi", d.h. die Chauken, vom niedergermanischen Heer unter P. Gabinius Secundus besiegt. Die Rückgewinnung des letzten Legionsadlers wurde dabei offensichtlich für so bedeutend gehalten, daß der Princeps "Gabinio Secundo Cauchis gente Germanica superatis cognomen Cauchius usurpare concessit" (Suet. Claud. 24,3).
Ähnlich wie Caligula nutzte auch Claudius die Erfolge in Germanien zu Propagandazwecken. 41/42 n.Chr. erschien ein Aureus, der sich direkt auf die vorhergehenden Siege bezieht und wiederum die Behauptung aufstellt, Germanien sei erobert worden, obwohl diese Siege sich auf zwei germanische Stämme beschränkten. Er trägt auf der Vorderseite den Kopf des Claudius mit Lorbeerkranz und der Umschrift "TI.CLAUD.CAESAR.AUG.P.M.TR.P", auf der Rückseite einen Triumphbogen mit einer Reiterstatue und zwei Trophäen; der Architrav des Bogens trägt die Inschrift "DE GERM(ANIS)".(16) Daneben erschienen zwischen 41 und 45 n.Chr. in ähnlicher Aufmachung zwei Aurei als Gedenkmünzen zu Ehren von Claudius' Vater Drusus, die auf der Rückseite ebenfalls einen Triumphbogen mit der Aufschrift "DE GERM" bzw. "DE GERMANIS" trugen, sowie ein weiterer Aureus zu Ehren des Drusus mit einem Feldzeichen, gekreuzten Schilden und Speeren und der Aufschrift "DE GE R MA NIS" auf der Rückseite.(17) Diese Münzen weisen alle darauf hin, daß auch Claudius zunächst die Germanienpropaganda seines Vorgängers wieder aufnahm. Auch er hielt also den Anspruch Roms auf die Eroberung und Beherrschung Germaniens aufrecht, ohne aber dort mehr zu unternehmen als einige begrenzte Aktionen gegen Chatten und Chauken.
In den folgenden Jahren verlagerte sich auch die Propaganda auf Britannien, während Germanien immer mehr in den Hintergrund rückte. So wurden die Münzserien zu Germanien ab 47 n.Chr. durch genauso gestaltete Serien mit der Legende "DE BRITANNIS" abgelöst. Im Zusammenhang mit der Britannieninvasion wurden die germanischen Heere 43 n.Chr. auf erneut 8 Legionen, 46 n.Chr. sogar auf 7 Legionen reduziert.(18) Damit war also endgültig klar, daß Claudius die Expansion im Nordwesten des Reiches auf Britannien beschränken wollte.
Wenig später, 47 n.Chr., wurde deutlich, daß der Sieg über die Chauken von 41 n.Chr. noch keine "Befriedung" oder Unterwerfung bedeutet hatte. Germanen dieses Stammes überfielen unter der Führung des Canninefaten Gannascus, der zuvor aus einer Auxiliareinheit desertiert war, die gallische Küste. Tacitus nennt den wachsenden Reichtum Galliens, das Fehlen innerer Streitigkeiten bei den Germanen und die Tatsache, daß das niedergermanische Heer gerade keinen Oberbefehlshaber hatte, als Gründe für diese Überfälle (Tac. ann. 11,18,1). Im Gegensatz zu den Ereignissen der Jahren 21 und 28 n.Chr. waren diesmal also keine Aufstände schon unterworfener Stämme gegen die römische Herrschaft der Anlaß für ein militärisches Eingreifen, sondern Raubzüge eines unabhängigen rechtsrheinischen Germanenstammes, die anscheinend nicht dazu dienen sollten, beispielsweise die betroffenen gallischen Gebiete von der römischen Herrschaft zu befreien.
Der neue niedergermanische Legat Cn. Domitius Corbulo vernichtete die Schiffe der Chauken mit Hilfe der Rheinflotte und zog dann zunächst gegen die Friesen, die offensichtlich befürchteten, jetzt für ihren Aufstand von 28 n.Chr. bestraft zu werden. Daher unterwarf der Stamm sich freiwillig, und "datis obsidibus consedit apud agros a Corbulone descriptos: idem senatum magistratus leges inposuit. ac ne iussa exuerent, praesidium immunivit" (Tac. ann. 11,19, 1f.).
Daraufhin veranlaßte Corbulo die Ermordung des Gannascus, um die Chauken ebenfalls zur Unterwerfung zu veranlassen. Das hatte allerdings zur Folge, daß der Aufruhr bei den Germanen so stark wurde, daß eine militärische Auseinandersetzung mit den Römern fast unumgänglich wurde. Diese Konfrontation wurde durch eine Anweisung des Princeps Claudius verhindert, der befahl, alle Truppen auf linksrheinisches Gebiet zurückzuziehen (Tac. ann. 11,19).
Ähnlich wie bei Tiberius, der Germanicus den Rückzug aus Germanien befohlen hatte, meint Tacitus auch hier, der Grund für diese Entscheidung sei der Neid eines Princeps auf einen erfolgreichen Feldherrn: "formidolosum paci virum insignem et ignavo principi praegravem (esse)" (Tac. ann. 11,19,3). Auch hier lagen der Entscheidung aber ernsthafte Beweggründe zugrunde, denn Claudius wollte die Entstehung einer zweiten Front in Germanien vermeiden, um den Erfolg in Britannien nicht durch die dann notwendige Aufteilung der Truppen aufs Spiel zu setzen.(19) Trotz dieser eindeutigen Beschränkung auf die linksrheinischen Gebiete erschien auch 46/47 n.Chr. ein Aureus, der ähnlich wie die früheren Prägungen den Kopf des Claudius sowie die Umschrift "TI.CLAUD.CAESAR.AUG.P.M.TR.P.VI.IMP.XI" auf der Vorderseite und einen Triumphbogen mit Reiterstatue, zwei Trophäen und der Inschrift "DE GERMANIS" auf der Rückseite trug.(20) Es wurde also ein weiteres Mal die Behauptung aufgestellt, Germanien sei erobert worden, obwohl die tatsächliche Politik auch unter Claudius einem Verzicht auf das rechtsrheinische Germanien gleichkam.
Im Jahre 50 n.Chr. unternahmen die Chatten einen Raubzug nach Obergermanien, wurden aber auf dem Rückweg vom obergermanischen Legaten Pomponius Secundus besiegt. Daraufhin stellten sie freiwillig Geiseln, da sie befürchteten, zwischen den römischen Legionen und den feindlichen Cheruskern eingeschlossen und aufgerieben zu werden (Tac. ann. 12,27f.).
Für alle militärischen Aktionen zwischen 41 und 54 n.Chr. gilt also, daß das Römische Reich zwar keine Gefährdung römischen Gebietes durch rechtsrheinische Germanen duldete und in der Propaganda immer wieder eine erfolgreiche Eroberung Germaniens behauptete, in der Praxis aber auch auf Unternehmungen verzichtete, die mehr als nur ein Vorgehen gegen aufständische Germanen bedeuteten.
Von einer Germanienpolitik Neros kann nicht gesprochen werden, weil
dieser Princeps sich während seiner Regierungszeit völlig auf
den Osten des Römischen Reiches konzentrierte und im Nordwesten
keine
größeren Aktivitäten veranlaßte. Germanien und
vor
allem das ober- und niedergermanische Heer wurden erst dann wieder zu
entscheidenden
Schauplätzen von Auseinandersetzungen, als 68 n.Chr.,
zunächst
in Gallien, eine Kette von Aufständen losbrach, die zum Sturz
Neros
führten, sich auf das gesamte Reich ausweiteten, wobei aber
Germanien
mit dem Bataveraufstand eines der Hauptfelder der Auseinandersetzung
blieb,(21)
und aus denen schließlich Vespasian als Sieger und neuer Princeps
hervorging.
Die einzigen Ereignisse, die aus Germanien für die Zeit zwischen 54 und dem Beginn der Aufstände überliefert sind, waren die Ansiedlungsversuche zweier germanischer Stämme auf rechtsrheinischem, römisch besetzten Militärland. "Frisii (...) agros (...) vacuos et militum usui sepositos insedere" (Tac. ann. 13,54,1). Da eine Siedlung in diesem rechtsrheinischen Uferstreifen aber für die Germanen verboten war, um auch jenseits des Rheines die Kontrolle über das Ufer auszuüben, verlangte der niedergermanische Oberbefehlshaber Dubius Avitus die Erlaubnis des Princeps Nero für die Ansiedlung. Die Anführer der Friesen erhielten in Rom zwar das römische Bürgerrecht von Nero, nicht aber die Erlaubnis zur Ansiedlung in dem umstrittenen Uferstreifen. Da sie sich trotzdem nicht zurückzogen, vertrieb bundesgenössische Kavallerie die Germanen (Tac. ann. 13,54).
Tacitus und Sueton berichten fast gleichlautend, die friesischen Gesandten hätten sich im Theater auf die Sitzplätze der Senatoren gesetzt, weil auch die Gesandtschaften anderer Völker dort saßen und die Friesen meinten, sie müßten dementsprechend auch dort sitzen (Tac. ann. 13,54; Suet. Claud. 25). Daraus ergibt sich, daß die gleiche germanische Gesandtschaft gemeint sein muß. Sueton datiert seinen Bericht aber in die Regierungszeit des Claudius, also vor 54 n.Chr. Aus der Erwähnung des Oberbefehlshabers Dubius Avitus bei Tacitus geht jedoch hervor, daß die beiden friesischen Fürsten nicht vor 57 n.Chr. in Rom gewesen sein können, weil Avitus erst 57 nach Germanien kam.(22)
Nach der Vertreibung der Friesen besetzten die Ampsivarier, ein weiterer germanischer Stamm, "eosdem agros" (Tac. ann. 13,55,1) und siedelten sich dort an, nachdem sie aus ihren eigentlichen Gebieten von den benachbarten Chauken vertrieben worden waren. Als auch ihnen von Dubius Avitus die Ansiedlung verboten wurde, riefen sie die Nachbarstämme zum Aufstand, der aber durch den gemeinsamen Aufmarsch der nieder- und obergermanischen Legionen und die angedrohte Vernichtung sofort niedergeschlagen wurde. Die Ampsivarier fanden auch bei den benachbarten Germanenstämmen keine Unterstützung für ihr Ansiedlungsvorhaben und wurden schließlich zwischen den Chatten und Cheruskern aufgerieben (Tac. ann. 13,56). Dieser zweite Ansiedlungsversuch kann nicht später als 58 n.Chr. stattgefunden haben, weil nur bis zu diesem Jahr Avitus und der gleichfalls erwähnte obergermanische Legat T. Curtilius Mancia den jeweiligen Oberbefehl innehatten.(23)
Obwohl die Römer sich seit Tiberius' Regierung im Prinzip auf die Beherrschung Galliens und der links des Rheins gelegenen Teile Germaniens beschränkten, zeigen diese Vorfälle doch, daß auch ein Uferstreifen rechts des Rheins, jenseits der eigentlichen Grenze, unter römischer Kontrolle stand und als Weideland für die Tiere des Militärs genutzt wurde. Um die Kontrolle über diesen Bereich zu behalten, war auch die Ansiedlung germanischer Stämme in diesem Bereich verboten und wurde, wie beschrieben, ggf. auch mit militärischem Einsatz verhindert.
Tiberius gab 17 n.Chr. den Versuch endgültig auf, Germanien
bis zur Elbe zu erobern. Mit dem Triumphzug, der dem Feldherrn
Germanicus
für die "Eroberung Germaniens" bewilligt wurde, behauptete er
andererseits
gleichzeitig, die vorhergegangenen Offensiven seien erfolgreich
gewesen,
und manifestierte damit endgültig, daß Rom den Anspruch auf
diese Gebiete dennoch nicht aufgegeben hatte.
"Rom hatte, wie es schien, seine Ansprüche auf das Gebiet zwischen Rhein und Elbe erfolgreich durchsetzen können. De facto waren die Aussichten für eine Eroberung Germaniens jedoch inzwischen fast geschwunden. (...) Einerseits mußte sich jeder Nachfolger des Tiberius von neuem vor die Notwendigkeit gestellt sehen, die alten rechtsrheinischen Ansprüche aufrechtzuerhalten und bei gegebener Gelegenheit nach außen hin zu dokumentieren, wollte er nicht seine Politik mit einem territorialen Verzicht belasten; auf der anderen Seite hatte er jedoch mit der Realität zu rechnen, die eine Verwirklichung dieser Gebietsansprüche nahezu unmöglich erscheinen ließ."(24)
Durch Tiberius' Entscheidung entstand in der römischen Germanienpolitik ein Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der von keinem der nachfolgenden Principes in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Chr. gelöst wurde. Man beschränkte sich darauf, den Status Quo, d.h. den Rhein als Grenze zwischen dem Römischen Reich und dem freien Germanien, zu sichern.
In der Praxis bedeutete das, daß in den Jahren zwischen 17 und 68 mehrfach und im allgemeinen erfolgreich Militäraktionen gegen diejenigen unternommen wurden, die in irgendeiner Weise die römische Herrschaft am Rhein in Frage stellten. Dabei ist jedoch zu betonen, daß die überlieferten Geschehnisse "wenige, über Jahrzehnte verteilte Feldzüge von geringerem Ausmaß (sind). Ernsthafte Gefährdungen der Rheingrenze hat es nicht gegeben".(25) In den Jahren 21 und 28 n.Chr. waren es Erhebungen unterworfener Stämme gegen Rom, 47 und 50 n.Chr. Raubzüge rechtsrheinischer Germanen auf linksrheinischem Gebiet, 57/58 n.Chr. das Eindringen zweier germanischer Stämme in einen unter römischer Kontrolle stehenden rechtsrheinischen Uferstreifen. Dazu kam 39 n.Chr. eine Verschwörung im obergermanischen Heer gegen den Princeps Caligula.
Bei den zuerst genannten Vorfällen spielten immer in erster Linie wirtschaftliche Gründe eine Rolle, sei es bei den Raubzügen die Aussicht auf Beute in Gallien bzw. im linksrheinischen Germanien, sei es die Suche nach demnach nicht ausreichend vorhandenem Siedlungsland.
Die Aufstände von 21 und 28 sind insbesondere deshalb interessant, weil sich daraus Anhaltspunkte ergeben könnten, wie unterworfene Stämme von den Römern behandelt wurden. Auch hier waren es vor allem wirtschaftliche Gründe, die die Erhebungen auslösten. Die Absicht, sich aus politischen Gründen von der römischen Herrschaft zu befreien, war allenfalls sekundär, was sich 21 n.Chr. beispielsweise an der relativ geringen Beteiligung gallischer Stämme und der weitgehend fehlenden Zusammenarbeit der Aufständischen zeigte. Aus den wirtschaftlichen Ursachen der Aufständen jedoch auf eine wie immer geartete Ausbeutung der unterworfenen Stämme durch die Römer zu schließen, wäre nicht ohne weitere Untersuchungen berechtigt. In beiden Fällen waren die überhöhten Abgaben, die die Aufstände auslösten, keine "normalen" Tribute, sondern außergewöhnliche Belastungen, die über die üblichen Zahlungen hinausgingen.
Interessant wäre dabei allerdings die Frage, warum im Falle der Gallier die Sonderabgaben zur Finanzierung der Germanienfeldzüge nach deren Beendigung nicht aufgehoben wurden, und warum im Falle der Friesen die überzogenen Tributforderungen des Verwalters von dessen Vorgesetztem geduldet wurden. In der Frage der Ausbeutung kann nur eine umfangreichere Untersuchung der wirtschaftlichen Struktur der römisch beherrschten Gebiete etwas mehr Klarheit bringen, wobei eine endgültige Klärung wohl nie zu erreichen ist.
Der beschriebenen Beschränkung auf die Verteidigung dieser Grenze stand die römische Propaganda gegenüber. Hier wurde der Anspruch Roms auf das rechtsrheinische Germanien unverändert aufrechterhalten, indem z.B. die kleinräumigen, defensiven militärischen Aktionen als erfolgreiche Eroberung ganz Germaniens dargestellt und gefeiert wurden und indem vor allem unter Caligula und Claudius an die beiden zwischen 12 v.Chr. und 16 n.Chr. in Germanien aktiven Feldherren Drusus und Germanicus erinnert wurde.
Die Frage, ob die römische Germanienpolitik zwischen 17 und 68 n.Chr. als offensiv oder defensiv, imperialistisch oder nicht-imperialistisch zu bezeichnen ist, kann dementsprechend nicht pauschal mit der einen oder anderen Feststellung beantwortet werden. Das römische Selbstverständnis, einen Anspruch auf Germanien zu haben und diesen auch verwirklichen zu wollen, ist auf jeden Fall als offensiv zu bezeichnen. Dagegen steht allerdings das römische Verhalten in der Praxis, das sich im allgemeinen auf die Defensive, d.h. die Verteidigung der Rheingrenze, beschränkte. Auf der anderen Seite versuchte Rom aber auch immer wieder, Einfluß zu erhalten auf rechtsrheinische, "freie" germanische Stämme, was sich besonders deutlich in der Einsetzung des in Rom aufgewachsenen Italicus zum König der Cherusker 47 n.Chr. und bei dem Versuch im gleichen Jahr zeigte, die Chauken durch die Ermordung ihres Anführers Gannascus zur Unterwerfung zu veranlassen.
"Imperialismus ist die (...) auf der bewußten und programmatischen Disposition eines Staates (...) ruhende expansive Aktionsart mit dem Ziel der Errichtung und Stabilisierung eines Imperiums oder Reiches und der faktisch unmittelbaren Beherrschung der unterworfenen Gruppen, Völker und Territorien nebst ihren Institutionen mit der Tendenz zur Weltherrschaft im optimalen Falle."(26)
Das römische Verhalten in Germanien, d.h. in dem Gebiet zwischen Rhein und Elbe, könnte also nach dieser Definition als imperialistisch bezeichnet werden, weil die Unterwerfung, Eingliederung und Beherrschung dieses Gebietes beabsichtigt war. Die Praxis jedoch kann allenfalls als ansatzweise imperialistisch angesehen werden, weil der römische Anspruch nach 17 n.Chr. nicht mehr ernsthaft in die Tat umgesetzt wurde.
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2. Vgl. F. Petri, G. Dröge (Hrsg.): Rheinische Geschichte Bd. I/1: Harald v. Petrikovits, Altertum. Düsseldorf 1976, S. 63f. (zurück)
3. Vgl. Joachim v. Elbe: Die Römer in Deutschland. Ausgrabungen, Fundstätten, Museen. Berlin/Stuttgart 1977 (zurück)
4. Dietwulf Baatz/Fritz-Rudolf Herrmann (Hrsg.): Die Römer in Hessen, Stuttgart 1982, S. 62 (zurück)
5. So aber Heinz Heinen: Trier und das Trevererland in römischer Zeit, Trier 1985, S. 58 (zurück)
6. Petrikovits, a.a.O., S. 64 (zurück)
7. Petrikovits, a.a.O. (zurück)
8. Gelzer: Julius Caligula, RE X,1 (Sp. 381ff.), Sp. 402 (zurück)
9. Petrikovits, a.a.O., S. 65 (zurück)
10. Bernd-Jürgen Wendt: Roms Anspruch auf Germanien. Untersuchungen zur römischen Außenpolitik im 1. Jahrhundert n.Chr. (Diss.), Hamburg 1960, S. 57 (zurück)
11. Gelzer, a.a.O., Sp. 402 (zurück)
12. E. Mary Smallwood (Hrsg.): Documents illustrating the principates of Gaius, Claudius and Nero, Cambridge 1967, S. 14 (zurück)
13. Baatz/Herrmann, a.a.O., S. 351 (zurück)
14. Harold Mattingly, Edward A. Sydenham: The Roman Imperial Coinage (RIC). Vol. I: Augustus to Vitellius. London 1968 (1923), Tib. 36. - Die im RIC erfolgte Einordnung unter das Principat des Tiberius wurde inzwischen widerlegt, eine Einordnung unter das Principat Caligulas als die wahrscheinlichste Möglichkeit angesehen (vgl. Mattingly: Coins of the Roman Empire in the British Museum (BMC). Vol. I: Augustus to Vitellius. London 1965, S. CXLIV). (zurück)
15. Werner Eck: Die Statthalter der germanischen Provinzen vom 1.-3. Jahrhundert (Epigraphische Studien Bd. 14), Köln/Bonn 1985, S. 13ff. (zurück)
16. RIC Cl. 16 (zurück)
17. RIC Cl. 75-77 (zurück)
18. Baatz/Herrmann, a.a.O., S. 65 (zurück)
19. Wendt, a.a.O., S. 69 (zurück)
20. RIC Cl. 18 (zurück)
21. Vgl. Ralf Urban: Der "Bataveraufstand" und die Erhebung des Julius Classicus (Trierer Historische Forschungen Bd. 8), Trier 1985 (zurück)
22. Eck, a.a.O., S. 123f. (zurück)
23. Eck, a.a.O., S. 123f. u. 25f. (zurück)
24. Wendt, a.a.O., S. 40f. (zurück)
25. Werner Hilgers: Deutsche Frühzeit. Geschichte des römischen Germanien, Frankfurt/Berlin/Wien 1976, S. 56 (zurück)
26. Robert Werner: Das Problem des Imperialismus
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