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"Platz an der Sonne" und "Manifest Destiny" - Die imperialistische
Ideologie in Deutschland und in den Vereinigten Staaten zwischen 1880
und 1914
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die imperialistische Ideologie in Deutschland
3. Die imperialistische Ideologie in den Vereinigten
Staaten
4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Unter "Imperialismus" im klassischen Sinne versteht man die sich Ende
des 19. Jahrhunderts innerhalb weniger Jahre vollziehende Ausbreitung
der westlichen Zivilisationen über den gesamten Erdball mit
unterschiedlichen, z.T. auf informelle ökonomische, in wachsendem
Maße aber auch auf formelle territoriale Herrschaft gerichteten
Methoden. Als der Beginn des Zeitalters, dem dieses Phänomen den
Namen gab, wird im allgemeinen die etwa 1880 beginnende Aufteilung des
afrikanischen Kontinents ("scramble for Africa") unter die
europäischen Mächte betrachtet, als das Ende der Erste
Weltkrieg, der zwar für den größeren Teil der
Kolonialreiche nicht die Unabhängigkeit bedeutete, zumindest aber
das Ende der Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten und
Ansätze einer weltweiten Zusammenarbeit.
Während der imperialistischen Aufteilung der Welt wurde zwar
teilweise an die Kolonialreiche und Besitzungen der frühen Neuzeit
angeknüpft, zwischen diesem Kolonialismus und dem Imperialismus
bestehen aber grundlegende Unterschiede. Zum einen waren einige alte
Kolonialmächte wie Spanien nicht mehr aktiv beteiligt, andere wie
Deutschland und die USA kamen dafür neu hinzu. Zum anderen
strebten jetzt nicht mehr private Handelskompanien, sondern in erster
Linie die Staaten selbst gezielt nach Kolonien. Die Hauptursache des
imperialistischen Expansionsdranges lag in den Auswirkungen der
Industriellen Revolution, die die Staaten zu ökonomischer
Expansion zwang, um Wirtschaftskrisen sowie die damit verbundene
Gefährdung der traditionellen Gesellschaftsstrukturen zu vermeiden
bzw. zu mildern. Neben den sozialökonomischen Motiven gewann nicht
zuletzt das Streben nach Weltmacht und Prestige eine entscheidende
Bedeutung.
Sowohl Repräsentanten des Staates und verschiedener
Interessengruppen als auch Publizisten und Öffentlichkeit brachten
verschiedene Argumente und Motive vor, um die imperialistische
Expansion durchzusetzen und zu rechtfertigen. Ob und inwieweit diese
imperialistischen Ideologien der einzelnen Staaten vergleichbar sind,
soll in dieser Arbeit am Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika
und des Deutschen Reiches untersucht werden. Beide Staaten gingen von
einer ähnlichen Ausgangslage aus, denn sie waren keine alten
Kolonialmächte wie etwa England oder Frankreich; im Falle
Deutschlands ist dies auf die vergleichsweise späte Reichseinigung
von 1871 zurückzuführen, im Falle der USA darauf, daß
sie ursprünglich selbst Teil des englischen Kolonialreiches waren
und sich bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in erster
Linie auf dem Gebiet der Binnenkolonisation, der Expansion nach Westen,
engagierten. Für beide Staaten spielt auch die relativ spät,
dafür aber schlagartig einsetzende Industrialisierung eine Rolle,
die die Gesellschaft in Deutschland seit 1871, in den USA seit dem Ende
des Bürgerkrieges 1865 tiefgreifend veränderte.
2. Die imperialistische Ideologie in Deutschland
"Imperialistische Tendenzen" im Sinne einer positiven Einstellung der
deutschen Öffentlichkeit gegenüber Kolonien und
überseeischer Expansion gab es schon erhebliche Zeit vor dem
tatsächlichen Beginn der deutschen imperialistischen Expansion;
sie sind etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der deutschen
Publizistik nachzuweisen. Auffällig ist hierbei, daß schon
in dieser Zeit die wesentlichen Argumentationslinien - sei es auf
wirtschaftlichem Gebiet die Forderung nach der Erschließung von
Absatzmärkten für industrielle Produkte und von
Siedlungsgebieten für den Bevölkerungsüberschuß,
sei es auf gesellschaftspolitischem Gebiet das Ziel, eine
Sozialrevolution zu verhindern, sei es die Weltanschauung, als
überlegene Rasse zur Weltherrschaft und Zivilisierung bzw.
Missionierung der "Eingeborenen" bestimmt zu sein. Insbesondere
während der Zeit der Reaktion nach 1848 und der in der
Reichsgründung 1871 gipfelnden nationalen Einigung Deutschlands
verlor die Kolonialpropaganda zeitweise zwar an Bedeutung, flammte aber
im Zuge der 1873 in Deutschland einsetzenden Wirtschaftskrise mit der
Forderung nach Kolonien als sicheren Absatzmärkten sofort wieder
auf, bis sie seit Ende der siebziger Jahre zum dominierenden Motiv in
Publizistik und Öffentlichkeit wurde.
Zu den herausragenden Kolonialpublizisten dieser Zeit gehörte
neben dem Juristen Wilhelm Hübbe-Schleiden und dem
Rittergutsbesitzer Ernst von Weber vor allem der Missionsleiter
Friedrich Fabri, der mit seiner Schrift "Bedarf Deutschland der
Kolonien?" von 1879 großen Erfolg hatte. In dieser Schrift ging
Fabri aus von den ökonomischen Problemen in Deutschland,
insbesondere dem Bevölkerungswachstum und der Krise von Industrie
und Landwirtschaft, und propagierte die Auswanderung in zu erwerbende
"Ackerbau-" bzw. Siedlungskolonien als einzig mögliche
Lösung, denn die Auswanderung in fremde Staaten wie die USA
bedeute einen "für das Mutterland völlig unproduktiven
Kräfte-Abfluß" von Arbeitskräften und Kapital: "Wenn
aber die industrielle Produktion stockt, Arbeit und Verdienst tief
herabsinken, so muß die Calamität der Uebervölkerung
immer stärker hervortreten, Nothstand und Pauperismus in rascher
Progression sich ausbreiten (...). Die Anwendung des Gesagten auf die
gegenwärtige Lage Deutschlands ergibt sich von selbst. (...) [I]m
Blick auf unsere deutsche Auswanderung, im Blick auf unsere
industrielle und wirthschaftliche Lage könnte (...) eigentlich
wohl nur der Unwissende oder der durchaus Voreingenommene leugnen,
daß Ackerbau-Colonien dem neuen Deutschen Reich dringend noth
seien." Zusätzlich hielt Fabri "tropische" oder Handelskolonien
für erforderlich, um Handel, Schiffahrt und insbesondere die
Industrie zu unterstützen, denn "wir bedürfen vor Allem der
baldigen Wiedergewinnung reichlicher, lohnender und solider Arbeit; wir
bedürfen neuer, fester Absatz-Märkte".
Diese wirtschaftliche Argumentation hatte bei Fabri wie bei den
übrigen Publizisten seiner Zeit zwar die größte
Bedeutung, daneben deutete er aber auch die gesellschaftliche, d.h.
nach innen stabilisierende, Dimension der Expansion an, denn es "ist im
neuen Reiche Vieles bereits so verbittert, von unfruchtbarem
Parteihader versäuert und vergiftet, daß die Eröffnung
einer neuen, verheißungsvollen Bahn nationaler Entwicklung wohl
auf Vieles wie befreiend, weil den Volksgeist nach neuen Seiten
mächtig anregend, zu wirken vermöchte." Deutlicher noch als
Fabri betonte Ernst v. Weber, daß die Kolonialexpansion nicht
zuletzt auch vor den "Giftpflanzen der sozialistischen Wühlereien"
schützen sollte: "Werden nicht sowohl für unseren
alljährlich so ungeheuern Bevölkerungszuwachs wie für
die Überproduktion der deutschen Arbeit regelmäßig
weite Abzugskanäle geschaffen, so treiben wir mit Riesenschritten
einer Revolution entgegen, die dem Nationalwohlstande auf lange Zeit
die tiefsten Wunden schlagen wird." Der scheinbaren
Staatsgefährdung durch die Sozialdemokratie hoffte man einerseits
beizukommen durch die erhoffte Milderung der Wirtschaftskrise infolge
von Kolonialerwerbungen, andererseits durch die von der inneren
Situation ablenkende und integrierende Wirkung der imperialistischen
Ideologie. Neben Publizisten wie Fabri vertraten auch
Repräsentanten der deutschen Wirtschaft und die seit Ende der
siebziger Jahre entstehenden Kolonialvereinigungen diese wirtschafts-
und gesellschaftspolitischen Argumentationen, die damit also auf einem
breiten ideologischen Konsens beruhten: "Dieser Konsensus erhielt
Übereinstimmung über die Notwendigkeit der überseeischen
Expansion aus vornehmlich sozialökonomischen Motiven und aus
Rücksicht auf die Stabilität einer bestimmten politischen
Ordnung. Er begründete und forderte den modernen Wirtschafts- und
Sozialimperialismus."
Im Unterschied zu den Kolonialpropagandisten der wilhelminischen Zeit
spielten dagegen Träume von einer deutschen Weltmacht oder
Weltpolitik eine noch geringe und umstrittene Rolle. So lehnte Fabri
machtpolitische Argumente für die Erwerbung von Kolonien
gänzlich ab, denn "die Colonial-Frage ist für uns
überhaupt keine politische Machtfrage", wohingegen beispielsweise
Wilhelm Hübbe-Schleiden schon 1881 behauptete: "Überseeische
Politik allein vermag auch den Grund zu legen für eine Weltmacht
Deutschlands!"
Otto v. Bismarck hatte - zunächst als preußischer
Ministerpräsident, ab 1871 auch als Reichskanzler - seit den
sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Förderung des Exports
von Industrieprodukten durch Maßnahmen im Rahmen einer
Freihandelspolitik als vorrangige staatliche Aufgabe betrachtet. Die
1882 nach einer kurzen Erholungsphase wieder aufflammende
Wirtschaftskrise und fortdauernde Schwierigkeiten mit den
Sozialdemokraten veranlaßten ihn dazu, die in diese Richtung
zielende Politik erneut zu intensivieren: "Wollen wir Nichts thun
für die Seefahrt, die Arbeit, die Erhaltung unseres Exports, zur
Vorbeugung von Nahrungslosigkeit im Lande wegen Mangel an Export und
Mangel an Arbeit? Wollen wir nicht vielmehr jedes Mittel wählen,
die Ausfuhr zu fördern, auch solche Mittel, für deren
Rentabilität wir nicht vorher den Beweis liefern können, an
die wir aber glauben?" Angesichts des in den achtziger Jahren
wachsenden öffentlichen Drucks zugunsten einer aktiven
Kolonialpolitik und einer Teilnahme am "scramble for Africa" gelangte
er zu der Auffassung, "daß die Kolonialfrage (...) aus
Gründen der inneren Politik eine Lebensfrage für uns ist.
(...) Die öffentliche Meinung legt gegenwärtig in Deutschland
ein so starkes Gewicht auf die Kolonialpolitik, daß die Stellung
der Regierung im Innern von dem Gelingen derselben wesentlich
abhängt."
Während er seine prinzipielle Ablehnung einer formellen
staatlichen Territorialherrschaft weiterhin aufrechterhielt,
befürwortete Bismarck daher nun die lockere Schutzherrschaft zur
Unterstützung kaufmännischer Initiativen. "Er habe sich schon
früher dagegen ausgesprochen und sei auch heute noch der Ansicht,
daß es für uns nicht richtig sein würde, Landstriche,
wo wir noch keine Interessen haben, zu occupiren, um dort
künstlich eine deutsche Einwanderung hervorzurufen (...). Etwas
Anderes aber sei es, die aus der deutschen Nation gewisser Maßen
herauswachsenden freien Ansiedelungen von Reichsangehörigen (...)
unter den Schutz des Reichs zu stellen. Er halte es für eine
Pflicht des Reichs, den auf diese Art begründeten
überseeischen Niederlassungen von Reichsangehörigen, nicht
nur ihren Factoreien, sondern auch den von ihnen erworbenen
Territorien, mit dem Schutze des Reichs zu folgen." Entsprechend dieser
Auffassung gewährte das Deutsche Reich in den Jahren 1884 und 1885
mehreren Handels- und Kolonialgesellschaften Schutzbriefe für die
erworbenen Territorien, insbesondere in Afrika. Dabei wurde weiterhin
Bismarcks Idealvorstellung des informellen Imperialismus
aufrechterhalten, denn die Verwaltung und Regierung der Gebiete sollte
diesen Gesellschaften überlassen bleiben, das Reich gewährte
nur die Möglichkeit der europäischen Gerichtsbarkeit und den
Schutz gegen Angriffe von innen und von anderen europäischen -
imperialistischen - Mächten.
In erster Linie begründete Bismarck also den Einstieg in die
aktive Weltpolitik mit der Notwendigkeit, die Auswirkungen der
Wirtschaftskrise einzuschränken, mithin als Teil einer
"Außenhandelspolitik als Feld antizyklischer Konjunkturpolitik".
Die gesellschaftspolitische Dimension des Imperialismus, die
angestrebte Sicherung der Gesellschaftsstrukturen und seiner eigenen
Regierung, hat er dagegen nur angedeutet.
In der Praxis stellte sich bald heraus, daß Bismarcks
freihändlerische Konzeption einer von Kaufleuten getragenen
Kolonialpolitik aufgrund von deren Zurückhaltung zum Scheitern
verurteilt war, zumal auch die wirtschaftlichen Erfolge geringer waren
als erwartet. Nach den Erwerbungen von 1884/1885 verfolgte der
Reichskanzler diesen Weg der Politik dementsprechend nicht weiter. Die
Agitation der an einer imperialistischen Expansion interessierten
Kreise lief jedoch weiter, jetzt insbesondere getragen von kolonialen
und nationalistischen Interessenverbänden wie der Deutschen
Kolonialgesellschaft und dem Alldeutschen Verband, und zusätzlich
unterstützt von namhaften Publizisten wie dem Soziologen Max Weber.
Ohne daß die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Seite des
Imperialismus aus der Argumentation verschwand, wurden in der
wilhelminischen Zeit die auf dem Sozialdarwinismus und verwandten
Ideologien beruhenden Vorstellungen von einer Überlegenheit des
deutschen Volkes über alle anderen Völker und Rassen zum
dominierenden Motiv. Zum einen ergab sich daraus das
Sendungsbewußtsein, also die Absicht, den übrigen
Völkern die Werte von "Deutschtum" und Christentum zu
übermitteln, was auch der Begründung und Rechtfertigung der
Erwerbung von Kolonien diente. So vertrat der Alldeutsche Verband die
Auffassung, "daß unser Volk, indem es die Erhaltung und
Ausbreitung deutschen Geistes auf der Erde betreibt, damit am
wirksamsten auch den Bau der Weltgesittung fördert. Denn unsere
deutsche Kultur bedeutet den idealen Kern menschlicher Denkarbeit, und
jeder Schritt, welcher für das Deutschtum errungen wird,
gehört demnach der Menschheit als solcher und der Zukunft unseres
Geschlechts." Zum anderen übertrug nun beispielsweise Max Weber
Charles Darwins Konzeption vom "Kampf ums Dasein" auf die politischen
und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Völkern und leitete
die Folgerung ab, "daß das unumgängliche handelspolitische
Ausdehnungsbestreben aller bürgerlich organisierten
Kulturvölker (...) sich jetzt mit völliger Sicherheit dem
Zeitpunkt wieder nähert, wo nur die Macht über das Maß
des Anteils der Einzelnen an der ökonomischen Beherrschung der
Erde und damit über den Erwerbsspielraum ihrer Bevölkerung,
speziell auch ihrer Arbeiterschaft, entscheiden wird."
Davon ausgehend, daß das deutsche Volk in diesem Kampf notwendig
Sieger bleiben müsse, um nicht unterzugehen, und aufgrund seiner
Vergangenheit und derzeitigen Stellung in Europa gerade zu dazu
verpflichtet war, nach dem Weltmachtstatus zu streben, forderte z.B.
der Alldeutsche Verband, "unserm Volk die Weltstellung zu gewinnen, wie
sie seinem Rang als europäischer Großmacht entspricht", wozu
er durch die "Förderung einer thatkräftigen deutschen
Interessenpolitik in Europa und über See" beizutragen
beabsichtigte. In ähnlicher Weise formulierte Max Weber in seiner
berühmten Freiburger Antrittsrede von 1895 die Forderung nach
einer deutschen Weltpolitik als Fortsetzung der Reichseinigung, also
als Macht- und Prestigefrage: "Wir müssen begreifen, daß die
Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre
alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen
hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt
einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte. (...) Es wird uns nicht
gelingen, den Fluch zu bannen, unter dem wir stehen: Nachgeborene zu
sein einer politisch großen Zeit, - es müßte denn
sein, daß wir verstünden, etwas anderes zu werden:
Vorläufer einer größeren".
Nachdem das Ausdehnungsbestreben zwölf Jahre lang zwar in der
Publizistik eine Rolle gespielt, nicht aber zu konkreten politischen
Ergebnissen geführt hatte, erfolgte 1897 der erneute Übergang
zu überseeischer Expansions- und "Welt-"politik mit der Besetzung
und späteren Pachtung des chinesischen Hafens Tsingtao. Zur
Begründung dieses Schrittes führte der damalige
Staatssekretär des Auswärtigen und spätere
Reichskanzler, Bernhard v. Bülow, in seiner Rede am 6.12.1897 in
erster Linie ökonomische Argumente an, denn angesichts der
drohenden Aufteilung des als zukunftsträchtiger Markt betrachteten
China in Interessensphären der einzelnen imperialistischen
Mächte hielt er es für entscheidend, sich gleichwertige
Handels- und Exportchancen zu sichern: "Wir müssen verlangen,
daß der deutsche Missionar und der deutsche Unternehmer, die
deutschen Waaren, die deutsche Flagge und das deutsche Schiff in China
geradeso geachtet werden, wie diejenigen anderer Mächte. Wir sind
endlich gern bereit, in Ostasien den Interessen anderer
Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht,
daß unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen
gebührende Würdigung finden. Mit einem Worte: wir wollen
niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz
an der Sonne."
Im Gegensatz zu den Konzeptionen Bismarcks gingen nun die
Ansprüche nicht nur der deutschen Öffentlichkeit, sondern
auch der höchsten Repräsentanten des Staates erheblich
weiter, und der Besitz von Kolonien galt als Zeichen der deutschen
Weltmachtstellung. So wies Bülow in noch moderatem Ton darauf hin,
"welche elementaren Triebkräfte, die rasche Zunahme unserer
Bevölkerung, der gewaltige Aufschwung unserer Industrie (...) uns
in die Weltpolitik hineingeführt haben und überseeische
Interessen für uns geschaffen haben. Die Aufgabe unserer
Generation ist es, gleichzeitig unsere kontinentale Stellung, welche
die Grundlage unserer Weltstellung ist, zu wahren, und unsere
überseeischen Interessen so zu pflegen, eine besonnene,
vernünftige, sich weise beschränkende Weltpolitik so zu
führen, daß die Sicherheit des deutschen Volkes nicht
gefährdet (...) wird. Deutlicher wurde Wilhelm II., der die
deutsche Öffentlichkeit aufforderte, "sich der festen
Überzeugung hinzugeben, daß unser Herrgott sich niemals so
große Mühe mit unserem deutschen Vaterlande und seinem Volke
gegeben hätte, wenn er uns nicht noch Großes vorbehalten
hätte. Wir sind das Salz der Erde." Was damit gemeint war, sagte
er an anderer Stelle: "Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich
geworden. Überall in fernen Teilen der Erde wohnen Tausende
unserer Landsleute. Deutsche Güter, deutsches Wissen, deutsche
Betriebsamkeit gehen über den Ozean. Nach Tausenden von Millionen
beziffern sich die Werte, die Deutschland auf der See fahren hat."
Die insbesondere vom Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Alfred
v. Tirpitz, propagierte und seit 1898 in Angriff genommene
Schlachtflotte sollte dabei den deutschen Weltmachtanspruch
unterstreichen und realisieren, die Sicherheit des Handels in
Übersee gewährleisten und damit die krisengeschüttelte
Wirtschaft unterstützen, und nicht zuletzt sollte sie als neuer
Integrationspol, als "starkes Palliativ gegen gebildete und ungebildete
Sozialdemokraten" dienen. Sie wurde von Bülow, Tirpitz und vor
allem auch Wilhelm II. ("bitter not ist uns eine starke deutsche
Flotte") proklamiert und von Verbänden wie dem Deutschen
Flottenverein mitgetragen, wobei die Ausführungen des
amerikanischen Autors A.T. Mahan als Vorbild dienten.
Die Versuche der Jahre zwischen 1897 und 1914, durch Verhandlungen mit
den anderen imperialistischen Mächten zu weiteren
Kolonialerwerbungen zu gelangen (z.B. "Mittelafrika-"Gedanke),
verliefen erfolglos, das Deutsche Reich manövrierte sich im
Gegenteil zunehmend in die außenpolitische Isolation der Zeit vor
dem Ersten Weltkrieg hinein. Diese Entwicklung jedoch verschärfte
nur die Stimmung in der Öffentlichkeit und die Töne in der
Propaganda bis hin zu Präventivkriegsüberlegungen und der
1912 von Friedrich v. Bernhardi gestellten Alternative zwischen
Weltmacht und Niedergang des Deutschen Reiches. Danach war "das
deutsche Volk vom Standpunkt seiner Kulturbedeutung aus voll
berechtigt, nicht nur einen Platz an der Sonne zu beanspruchen, wie
Fürst Bülow sich bescheiden zu äußern beliebte,
sondern einen vollgültigen Anteil an der Beherrschung der Erde
weit über die Grenzen seiner jetzigen Einflußsphäre
hinaus zu erstreben." Da es keinen "Stillstand (...) in der
Völkergeschichte" gebe, bedeute auch ein Verharren auf der
jetzigen Position einen Rückschritt, das deutsche Reich sei dazu
gezwungen, um die Machterweiterung zu kämpfen, um nicht in die
Bedeutungslosigkeit zurückzusinken. Ein Angriffskrieg war damit
einkalkuliert, sogar zur Notwendigkeit erklärt.
3. Die imperialistische Ideologie in den Vereinigten
Staaten
Die Geschichte und das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten
von Amerika sind auf der einen Seite geprägt von einer starken
antikolonialistischen und antiimperialistischen Tradition, die sich aus
dem Unabhängigkeits- und Freiheitsstreben der ehemaligen
britischen Kolonie ergab und erstmals in der
Unabhängigkeitserklärung von 1776 niedergelegt wurde. Auf der
anderen Seite sind die Vereinigten Staaten gleichzeitig das
Musterbeispiel der "expanding society", denn ihre Geschichte ist die
Geschichte einer Expansion, zunächst innerhalb der Grenzen des
nordamerikanischen Kontinents, später auch darüber hinaus.
Zum dritten spielt auch die aus dem Puritanismus stammende Vorstellung
eine Rolle, das amerikanische Volk sei von Gott auserwählt, eine
neue Gesellschaft aufzubauen. Diese Vorstellung fand sich wieder in dem
1845 im Zusammenhang mit der Annexion von Texas geprägten Begriff
des "manifest destiny", der das US-amerikanische Selbstverständnis
ausdrückte, das eigene Volk sei allen anderen überlegen,
seine Ausbreitung und die Ausweitung des Geltungsbereichs
demokratischer Institutionen nach amerikanischem Vorbild seien
gottgewollt. Entsprechend wurde die territoriale Expansion der
Vereinigten Staaten in der Folgezeit häufig mit dieser Vorstellung
begründet bzw. gerechtfertigt.m
So führte der Publizist John Fiske aus, daß die englische
Rasse im Kampf um den Besitz Amerikas Sieger geblieben sei und die dort
begonnene Kolonisation auf der gesamten Welt fortsetzen werde, "bis
jedes Land auf der Erdkugel, das noch nicht Träger einer alten
Zivilisation ist, in seiner Sprache, seiner Religion, seinen
politischen Gewohnheiten und Traditionen englisch sein wird". Mit
"englisch" allerdings meinte Fiske hier den amerikanischen Zweig der
Angelsachsen, denn die "Rasse, die in diesem Ringen" - um Nordamerika -
"den Sieg davontrug, war dazu bestimmt, fortan die Führungsrolle
in der Welt zu übernehmen", da sie auch über die
zahlenmäßige, militärische und
politisch-institutionelle Überlegenheit verfüge. Letztendlich
werde die Einigung der Welt unter amerikanischer Führung zu einer
Föderation der gesamten Menschheit führen, und dann erst
seien echter Friede und echte Zivilisation tatsächlich
verwirklicht und gewährleistet.
Stärker prononciert wies Josiah Strong in seinem Buch "Our
Country. Its Possible Future and its Present Crisis" 1885 auf die sich
vor allem in Nordamerika zeigende Überlegenheit der Angelsachsen
hin, was sich aus den natürlichen Vorzügen des Kontinents und
der in den Vereinigten Staaten besonders starken Ausprägung der
angelsächsischen Charakteristika, insbesondere der Fähigkeit
zu kommerziellen Unternehmungen und zur Kolonisation sowie der hohen
sozialen Mobilität mit der entsprechenden Energieentfaltung,
ergebe. Aus der Entwicklung der Vereinigten Staaten leitete Strong die
sozialdarwinistische Folgerung ab, Gott bereite den amerikanischen
Zweig der Angelsachsen auf "den Endkampf der Rassen" vor. Dieser sei
notwendig, weil die bisherige Westbewegung der Zivilisationen, d.h. die
Auswanderung der jeweiligen Bevölkerungsüberschüsse nach
Westen, auf dem amerikanischen Kontinent ihr Ende erreicht habe. Ohne
Zweifel stand für ihn fest, daß "dieser Wettkampf der Rassen
das 'Überleben des Stärksten' zum Ziel hat" und daß
dieser "Stärkste" die angelsächsische Rasse sein müsse.
Auf der Grundlage rassischer Superiorität und göttlicher
Prädestination waren die USA nach Auffassung dieser Autoren also
berechtigt und geradezu verpflichtet, die Welt zu missionieren, mit den
Segnungen der amerikanischen Freiheit zu versorgen, gleichzeitig aber
auch sich selbst zur führenden Macht in der Welt zu entwikkeln.
Die Missionierung hatte dabei auch den - eigennützigen - Zweck,
durch den Kontakt fremder, z.B. ostasiatischer, Kulturen mit der
westlichen Zivilisation neue Bedürfnisse zu wecken und damit den
eigenen Handel zu fördern: "Missionaries are the pioneers of trade
and commerce. Civilization, learning, instruction breed new wants which
commerce supplies. Look at the electric telegraph now in every province
in China but one. Look at the steamships which ply along the coast from
Hongkong to Newchang". Eine nicht unbedeutende Rolle spielte auch die
Auffassung von der Notwendigkeit ständiger Expansion, weil nur auf
diese Weise die Wohlfahrt einer Nation gewährleistete werden
konnte. Jegliches Abweichen von diesem Weg, der symbolisiert wurde
durch die "frontier" der kontinuierlichen Westbewegung, bedeutete
danach Stagnation und letztendlich Niedergang.
Nach dem Ende des Bürgerkrieges 1865 erlebte die Industrie der
Vereinigten Staaten einen starken Entwicklungsschub, der insbesondere
getragen wurde von Bau der Eisenbahnen und der Industrialisierung und
Kommerzialisierung der landwirtschaftlichen Produktion. 1893 brach
jedoch eine schwere Wirtschaftskrise aus, deren Ursachen auf der einen
Seite in wachsenden Überkapazitäten lagen; auf der anderen
Seite trugen das Ende des transkontinentalen Eisenbahnbaus und die
symbolträchtige offizielle Schließung der "frontier" im
Jahre 1891 zu dem Eindruck bei, die Möglichkeiten, die der
nordamerikanische Kontinent für die Menschen geboten hatte, seien
plötzlich drastisch eingeschränkt, und verschärfte somit
die aus der Wirtschaftskrise resultierenden sozialen Spannungen. Daraus
ergab sich die immer mehr an Boden gewinnende Überzeugung, eine
neue "frontier" in Übersee müsse geschaffen werden, die
ökonomische Expansion als Gewinnung von Absatzmärkten
für die überschüssigen Produkte, sei von
größter Notwendigkeit für die Stabilität der
Wirtschaft ebenso wie der Gesellschaftsordnung. So stellte S.O. Thacher
im April 1885 vor einem Senatsausschuß fest: "In allen Bereichen
der Wirtschaft wird heute mehr produziert, als konsumiert werden kann.
(...) Mehr als jemals zuvor hängen unser zukünftiges
Wachstum, der innere Frieden und die Stabilität unserer inneren
Ordnung davon ab, daß wir neue Konsumenten für unsere
Produkte finden. Ziel (...) ist der Versuch, unseren
landwirtschaftlichen und industriellen Produzenten einen angemessenen
Markt zu verschaffen."
Traditionell war Lateinamerika das Feld, auf dem man zunächst
diese Märkte zu erringen suchte. Ende des 19. Jahrhunderts trat
dieses Interessengebiet aber gegenüber dem Pazifikraum,
insbesondere China, zurück, denn die Absatzmöglichkeiten in
dieser Region schienen unermeßlich zu sein, der Anteil daran
entscheidend für die zukünftige Rolle einer Nation in der
Weltwirtschaft. Daß die USA dazu bestimmt waren, die
ökonomische Weltherrschaft zu übernehmen, und darum
kämpfen sollten, sie aufrechtzuerhalten, gehörte ebenfalls zu
den gängigen Vorstellungen dieser Zeit und wurde beispielsweise
von dem Historiker Brooks Adams vertreten: "Die Union bildet ein
gigantisches, mächtig wachsendes Reich, das sich über die
halbe Erdkugel erstreckt, ein Imperium, das über die
größte Masse akkumulierten Reichtums verfügt (...) und
das (...) mächtigste industrielle System, das je zur Entwicklung
gekommen ist. (...) [Die Vereinigten Staaten] sind das Herz des
ökonomischen Systems der Epoche geworden, und mit Macht und
Geisteskraft müssen sie ihre Vormachtstellung aufrechterhalten,
oder es harrt ihrer das Schicksal derer, die ausgeschaltet werden."
Wie allerdings diese Ziele - Marktexpansion, gipfelnd in der
wirtschaftlichen Vorherrschaft auf der gesamten Welt - erreicht werden
sollten, war in der amerikanischen Öffentlichkeit umstritten. Die
Vorstellungen umfaßten sämtliche Spielarten des
Imperialismus von der informellen ökonomischen Durchdringung bis
zur formellen Erwerbung von Kolonien. Die Befürworter der ersten
Methode unterstrichen vor allem die auf diese Weise mit dem geringsten
Aufwand zu erreichenden Vorteile: "We secure freedom and equal
protection for the persons of Americans (...), for their property, and
for the pursuit of their professions and enterprises of every sort. We
gain security for the American missionaries, churches, and schools,
(...) and absolute liberty of commerce and freedom of worship. (...) In
a word, we gain everything which we could gain by owning the country,
except the expense of governing it." Auch die Propagandisten der
formellen Territorialexpansion verfolgten nicht in erster Linie das
Ziel, bei der imperialistischen Aufteilung der Welt einen
adäquaten Anteil, Kolonien also als Prestige- und Machtobjekt zu
erwerben, sondern sie betrachteten koloniale Besitzungen ebenfalls als
Mittel zum Zwecke der Marktausweitung. Herausragendes Beispiel
dafür ist Alfred T. Mahan, der den Ausbau der Handelsmarine
für die Unterstützung des amerikanischen Exports für
notwendig hielt und daraus die Forderungen nach einer Schlachtflotte
zum Schutz der Handelsmarine sowie nach Kolonien als
Flottenstützpunkten ableitete: "In allen diesen Punkten -
Produktion, verbunden mit der Notwendigkeit des Warenaustauschs;
Schiffahrt, mit deren Hilfe sich dieser Austausch vollzieht; und
schließlich Kolonien, welche die Operationen der Schiffahrt
ermöglichen (...) - liegt der Schlüssel zu einem
Großteil der Geschichte und Politik der Nationen, welche an den
Küsten der Weltmeere leben."
Teilweise wurden die wirtschaftlichen Motive auch mit dem
amerikanischen Sendungsbewußtsein verknüpft, wobei diese
Kombination auch in der calvinistisch-puritanischen Auffassung des
engen Zusammenhangs von Wirtschaft und Moral, von Wohlstand und
Auserwähltheit begründet lag. So fragte Senator Albert J.
Beveridge im September 1898: "Haben wir" - d.h. die Vereinigten Staaten
- "nicht eine Mission zu erfüllen, nicht die Pflicht, unseren
Mitbürgern zu helfen? Hat Gott uns nicht mit Gaben beschenkt, die
jenseits unseres Verdienstes liegen, und hat er uns nicht als das Volk
seiner besonderen Gunst erwählt (...)?" Die Mission der USA
umfaßte für ihn auf der einen Seite die Ausdehnung der
Absatzmärkte für die amerikanischen Waren, die den eigenen
Bürgern zugute kommen sollte ("möge es Gott gefallen, neue
Märkte für das, was unsere Schiffe transportieren, zu
schaffen"), auf der anderen Seite die Ausdehnung des Geltungsbereichs
amerikanischer Institutionen zugunsten fremder Völker: "Sollen
freie Institutionen in dem Maße ihre gesegnete Herrschaft
erweitern, in welchem Kinder der Freiheit an Stärke gewinnen, bis
die Macht unserer Prinzipien sich die Herzen der gesamten Menschheit
erobert hat?"
Nachdem die USA schon seit dem Ende der achtziger Jahre des 19.
Jahrhunderts mehrfach während Krisensituationen in Lateinamerika
eingegriffen bzw. auch mit militärischen Aktionen gedroht hatten,
führte die Intervention im Bürgerkrieg auf der damals
spanischen Insel Kuba im Jahre 1898 schließlich erstmals zu einer
offenen militärischen Auseinandersetzung mit einer anderen
Kolonialmacht, dem spanisch-amerikanischen Krieg, und letztendlich zur
Erwerbung von Kolonien, denn die Vereinigten Staaten nahmen Kuba, die
Philippinen sowie einige kleinere Pazifikinseln in ihren Besitz. Der
amerikanische Präsident McKinley begründete die Intervention
zum einen mit dem "schweren Schaden (...), den Handel und Wirtschaft
unseres Volkes erlitten haben" und der damit verbundenen Pflicht der
amerikanischen Regierung, "unseren Bürgern in Kuba den Schutz und
die Unversehrtheit von Leben und Eigentum zu garantieren" - mithin den
amerikanischen Interessen in Kuba; zum anderen aber führte er auch
an, es gehöre im Interesse der kubanischen Einwohner zu den
Pflichten der USA, "der Barbarei (...) unmittelbar vor unserer
Haustür" ein Ende zu setzen.
Die bei den Friedensverhandlungen festgelegte endgültige
Übernahme der Philippinen erklärte sich aus ihrer Bedeutung
als strategisch wichtiger Stützpunkt auf dem Weg nach Ostasien,
dem nach amerikanischer Auffassung entscheidenden Markt der Zukunft:
"Der Archipel (...) ist das Sprungbrett für die Begründung
vorrangigen Einflusses und politischer, wirtschaftlicher und
militärischer Überlegenheit im Fernen Osten. (...) Der Besitz
des Philippinischen Archipels ist (...) für die Fortentwicklung
nationaler amerikanischer Interessen absolut unentbehrlich."
Zusätzlich zu diesen vornehmlich ökonomischen Vorteilen, die
die Philippinen bieten sollten, betonte McKinley die von Gott
auferlegte Verpflichtung zur Zivilisierung, begründete die
imperialistische Expansion also mit dem amerikanischen
Sendungsbewußtsein und Missionierungsauftrag: die USA
dürften "nicht vergessen, daß der Krieg uns gegen unseren
Wunsch und unsere Absichten neue Pflichten und Verantwortlichkeiten
auferlegt hat, denen wir uns stellen müssen, wie es einer
großen Nation geziemt, deren Wachstum und Aufstieg von Beginn an
durch Gott die Bestimmung zu höchster Macht und die Verpflichtung
zu zivilisatorischer Tat erhalten hat." Dem entsprach die Auffassung,
es mit einem halbbarbarischen Volk zu tun zu haben, das nicht zum
Aufbau eines demokratischen Staatswesens nach amerikanischem Vorbild
fähig sei. "Das Gesetz der Freiheit, wonach jede gerechte
Regierung ihre Autorität von der Zustimmung der Regierten ableiten
muß, gilt nur für diejenigen, die zur Selbstregierung
fähig sind."
Grundsätzlich allerdings galt weiterhin die Bevorzugung des
informellen Wirtschaftsimperialismus, der insbesondere in China, dem
eigentlichen Ziel der Bemühungen, aufrechterhalten und gegen die
Aufteilungsabsichten der übrigen imperialistischen Mächte
verteidigt wurde. So postulierte der US-Außenminister John Hay in
mehreren Zirkularnoten das Prinzip der "Offenen Tür", das die
Forderung nach gleichen Wirtschaftschancen für alle
imperialistischen Nationen, die Verhinderung der Bildung von
Interessensphären, wie sie ansatzweise in China schon entstanden,
und damit die Aufrechterhaltung der territorialen Integrität
Chinas, beinhaltete.
Das Prinzip der ökonomischen Durchdringung schloß dennoch
einen sehr weitgehenden Einfluß auf formell unabhängige
Staaten, insbesondere in Lateinamerika, nicht aus, wie er in Roosevelts
Erweiterung der Monroe-Doktrin vom 6.12.1904 zum Recht der Vereinigten
Staaten erklärt wurde. Die Interessen der USA und der
lateinamerikanischen Staaten seien im Prinzip identisch, und solange
diese Staaten "den Grundgesetzen der zivilisierten Gesellschaft Folge
leisten, dürfen sie sicher sein, mit herzlicher und hilfreicher
Sympathie behandelt zu werden." Wenn aber "ihre Unfähigkeit und
Unwilligkeit, im eigenen Land für Recht und Ordnung zu sorgen und
den Rechten des Auslands Geltung zu verschaffen, zur Verletzung von
Rechten der Vereinigten Staaten führen oder zum Schaden aller
amerikanischen Nationen Anlaß für eine ausländische
Aggression abzugeben drohen", seien die USA berechtigt, in deren
Angelegenheiten einzugreifen. "In der westlichen Hemisphäre kann
das Festhalten der Vereinigten Staaten an der Monroedoktrin diese, wenn
auch widerstrebend, dazu zwingen, in offensichtlichen Fällen von
Rechtsbruch und Unfähigkeit die Rolle einer internationalen
Polizeimacht zu übernehmen." In Anwendung dieses
"Roosevelt-Corollary" intervenierten die Vereinigten Staaten in den
folgenden Jahren mehrfach in Lateinamerika, so z.B. 1907 durch die
Übernahme der völligen Finanzkontrolle über die
verschuldete Dominikanische Republik.
Insgesamt waren Kolonien für die Vereinigten Staaten, abgesehen
von ihrem strategischen Stellenwert als Stützpunkte auf dem Weg
nach Asien, von relativ geringer Bedeutung; entscheidender war,
daß die USA ihren Weltmachtanspruch mit dem Verweis auf
göttliche Prädestination anmeldeten und auch durchsetzten.
"We have no choice, we people of the United States, as to whether or
not we shall play a great part in the world. That has been determined
for us by fate, by the march of events. We have to play that part."
4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Bei einer Gegenüberstellung der deutschen und der amerikanischen
Argumentationsmuster zur Propagierung imperialistischer Expansion zeigt
sich deutlich, daß diese in den Grundlinien übereinstimmen.
In beiden Fällen können die Argumentationen zwei großen
Komplexen zugeordnet werden; der erste dieser Komplexe umfaßt die
wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen, der zweite die
im kulturellen und ideologischen Bereich angesiedelten Motive.
Sowohl im Deutschen Reich als auch in den Vereinigten Staaten hatte die
Öffentlichkeit eine Expansion schon erhebliche Zeit vor dem
Eintritt in den Kreis der imperialistischen Mächte
befürwortet, doch aus unterschiedlichen Gründen. Für die
Amerikaner war ständige Expansion conditio sine qua non, Teil des
eigenen "manifest destiny" und der eigenen Tradition; der Übergang
zum Imperialismus war daher trotz der antikolonialistischen
Grundhaltung der Vereinigten Staaten relativ leicht möglich.
"[O]ne fact clearly emerged (...) that by 1890, the United States were
politically, socially, and economically prepared to accept the
blessings - and burdens - of imperialism. All that was wanting was the
proper time and circumstance". Deutschland dagegen besaß keine
derartige Expansionstradition, hatte seit dem Mittelalter keine Gebiete
mehr kolonisiert. Daß hier trotzdem vor der Erwerbung von
Kolonien eine imperialistische Ideologie entstand, daß im
Gegenteil die Kolonialexpansion nicht zuletzt auch auf die Existenz
einer solchen Ideologie zurückzuführen war, lag in der
wachsenden Überzeugung begründet, die Expansion sei aus
wirtschaftlichen Gründen zweckmäßig und notwendig.
Die Zeit zwischen 1873 und 1896, von den Zeitgenossen als "Große
Depression" bezeichnet, war nicht die Zeit einer ununterbrochenen
Wirtschaftskrise, aber eines in sämtlichen Industriestaaten
deutlich geschwächten Konjunkturverlaufs mit immer wieder
ausbrechenden Krisen, geprägt von Überproduktion und
Unterkonsumption. Das galt in Deutschland insbesondere nach dem
"Gründerkrach" von 1873, in den USA verstärkt seit 1893, nach
dem Ende von "frontier" und Eisenbahnbau. Wie schwerwiegend diese
Krisen empfunden wurden und wie dringend das Bedürfnis nach einem
Ausweg war, zeigt sich darin, daß in beiden Staaten in praktisch
jeder Äußerung zu Kolonien und zu imperialistischer
Expansion allgemein auf die Notwendigkeit der Gewinnung von
Absatzmärkten hingewiesen wurde; die Zitate sind austauschbar, ob
nun Friedrich Fabri behauptete, daß "wir (...) neuer, fester
Absatzmärkte [bedürfen]", oder S.O. Thacher sich aussprach
für den "Versuch, unseren landwirtschaftlichen und industriellen
Produzenten einen angemessenen Markt zu verschaffen." Die
Verantwortlichen in den USA hielten es dabei ebenso wie Bismarck in der
ersten Phase der deutschen Kolonialpolitik für erstrebenswert,
sich so weit wie möglich auf die ökonomische Durchdringung zu
beschränken, Kolonien galten nur als Mittel zum Zweck. Im Falle
Deutschlands kam neben der Suche nach Absatzmärkten die Tatsache
hinzu, daß man auf einen Abfluß des immensen
Bevölkerungswachstums der letzten Jahrzehnte angewiesen war und
dafür nach Siedlungskolonien suchte, um die Auswanderung nach
Amerika einzudämmen. In den Vereinigten Staaten spielte dieser
Faktor überhaupt keine Rolle, da auch nach der Schließung
der "frontier" immer noch genügend Land zur Besiedelung innerhalb
der eigenen Grenzen zur Verfügung stand.
Die wirtschaftlichen Probleme, die damit verbundene Arbeitslosigkeit
etc. führten in beiden Länder zu wachsender innerer Unruhe
und einer potentiellen Gefährdung der Gesellschaftsordnung. Diese
Gefährdung abzumildern durch konkrete Verbesserungen der
wirtschaftlichen Lage ebenso wie durch die Eröffnung neuer
Perspektiven, war in Deutschland wie in den USA eines der Hauptziele,
die mit dem Imperialismus erreicht werden sollten. In den seltensten
Fällen allerdings wurde diese sozialimperialistische Zielsetzung
auch offen zur Begründung und Rechtfertigung des Imperialismus
genannt; allenfalls deutete man sie mit wenigen Worten an, wie dies
etwa Bismarck tat, für den die Kolonialfrage "aus Gründen der
inneren Politik eine Lebensfrage" für das Deutsche Reich war, oder
auf Seiten der Vereinigten Staaten S.O. Thacher, der die Notwendigkeit
überseeischer Absatzmärkte für die "Stabilität
unserer inneren Ordnung" betonte.
Die zweite Gruppe von Argumenten kann umschrieben werden mit
Sozialdarwinismus, Sendungsbewußtsein und Weltmachtstreben.
Amerikaner wie Deutsche gingen davon aus, daß sie das jeweils
überlegenste, höchstentwikkelte und zivilisierteste Volk
seien. Auf seiten der Vereinigten Staaten wurzelte diese
Überzeugung vor allem in der eigenen Geschichte, im Stolz auf
"God's own Country" und die erste moderne Demokratie der Welt. In
Fortführung des puritanischen Sendungsbewußtseins lag es
daher auch im amerikanischen Selbstverständnis, diese Segnungen
der eigenen Zivilisation weiterzugeben an andere Völker.
Andersherum konnte aber auch ein Verstoß gegen diese Moral- und
Wertvorstellungen eine Intervention rechtfertigen, wie es im Falle des
spanisch-amerikanischen Krieges geschah, als McKinley den Eingriff auf
Kuba mit des "Barbarei (...) unmittelbar vor unserer Haustür"
begründete. Auch in Deutschland war man allgemein der
Überzeugung, die eigene Nation sei insbesondere aufgrund ihrer
Geschichte und Kultur den übrigen Nationen und Völkern
überlegen. Das sich daraus ergebende Sendungsbewußtsein war
jedoch weniger stark ausgeprägt als im Falle der Vereinigten
Staaten und findet sich nur in vereinzelten Äußerungen
beispielsweise des Alldeutschen Verbandes, der behauptete, daß
"unsere deutsche Kultur (...) den idealen Kern menschlicher Denkarbeit"
bedeute und dementsprechend zugunsten der gesamten Menschheit zu
verbreiten war. Größere Bedeutung neben dieser
"idealistischen" Variante hatte für die Deutschen aber die
sozialdarwinistische Auffassung, der "Kampf ums Dasein" sei
unvermeidlich, und das eigene Volk müsse zu den Siegern
gehören, da die Alternative den Untergang bedeute. Da die
Konzeptionen sehr gut zusammenpaßten, übernahmen auch
amerikanische Publizisten und Politiker diese europäische
Vorstellung des Sozialdarwinismus, die Ende des 19. Jahrhunderts
sämtliche imperialistischen Mächte vertraten. Sie entsprach
der amerikanischen Wirtschaftsordnung ebenso wie der Überzeugung
von der eigenen Überlegenheit, die nun auf eine rassische,
quasiwissenschaftliche Grundlage gestellt werden konnte. Entsprechend
argumentierten John Fiske und Josiah Strong, die Angelsachsen und
speziell deren amerikanische Vertreter seien diejenigen, die im
"Wettkampf der Rassen" überleben und die Erde unter ihre
Vorherrschaft bringen würden. Den Status einer Weltmacht für
sich für gerechtfertigt, sogar für selbstverständlich zu
halten und zu beanspruchen, war die konsequente Fortsetzung dieser
Denkweise, eine Durchsetzung aufgrund der Stellung als Hegemonialmacht
auf dem eigenen Kontinent nicht sonderlich schwierig. Das
Roosevelt-Corollary, der Anspruch auf die Rolle als "internationale
Polizeimacht", und die sich darauf gründenden Interventionen der
folgenden Jahre, war nur der Auftakt.
Anders als die Amerikaner standen die Deutschen immer unter dem Druck,
"den Fluch zu bannen, (...) Nachgeborene zu sein einer politisch
großen Zeit", sie befürchteten also in einer Art
Torschlußpanik, nach vollbrachter Reichseinigung nun in die
Bedeutungslosigkeit zurückzusinken, weil man bei der Aufteilung
der Welt zu spät gekommen war und nicht genügend Kolonien
hatte erwerben können. Die ständigen Proklamationen des
deutschen Weltmachtstatus z.B. durch Wilhelm II. ("Aus dem Deutschen
Reiche ist ein Weltreich geworden.") und die Ungeschicklichkeit der
Versuche, einen derartigen Status in Konkurrenz zu den übrigen
europäischen Mächten zu realisieren, hatten allerdings
gegenteilige Auswirkungen und führten letztendlich mit zum Ersten
Weltkrieg.
Insgesamt also haben die Vereinigten Staaten und das Deutsche Reich
ihren Übergang zum Imperialismus mit vergleichbaren Argumenten
begründet. Als "Eckpunkte" der imperialistischen Argumentation
dienten in beiden Fällen, so kann zusammenfassend festgestellt
werden, die Suche nach Außenmärkten, der Versuch einer
Stabilisierung der Gesellschaftsordnung, das Sendungsbewußtsein
und das Streben nach Weltmacht. Auf wirtschaftlichem und
gesellschaftlichem Gebiet sind die Äußerungen sogar
weitgehend austauschbar, da beide Staaten von einer ähnlichen
Ausgangslage ausgingen. Auf dem Gebiet der Weltanschauungen liegen die
Schwerpunkte etwas unterschiedlich; die Amerikaner waren erheblich
stärker davon überzeugt, die Rolle als Weltmacht und
Missionar im Auftrag von Freiheit und Demokratie sei ihnen von Gott
bestimmt, während das deutsche Weltmachtstreben insbesondere auf
die Angst zurückzuführen ist, eben diesen Status als
Weltmacht nicht zu erhalten bzw. zu verlieren.
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