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"Platz an der Sonne" und "Manifest Destiny" - Die imperialistische Ideologie in Deutschland und in den Vereinigten Staaten zwischen 1880 und 1914


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung


2. Die imperialistische Ideologie in Deutschland


3. Die imperialistische Ideologie in den Vereinigten Staaten


4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede


Literaturverzeichnis




1. Einleitung

Unter "Imperialismus" im klassischen Sinne versteht man die sich Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb weniger Jahre vollziehende Ausbreitung der westlichen Zivilisationen über den gesamten Erdball mit unterschiedlichen, z.T. auf informelle ökonomische, in wachsendem Maße aber auch auf formelle territoriale Herrschaft gerichteten Methoden. Als der Beginn des Zeitalters, dem dieses Phänomen den Namen gab, wird im allgemeinen die etwa 1880 beginnende Aufteilung des afrikanischen Kontinents ("scramble for Africa") unter die europäischen Mächte betrachtet, als das Ende der Erste Weltkrieg, der zwar für den größeren Teil der Kolonialreiche nicht die Unabhängigkeit bedeutete, zumindest aber das Ende der Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten und Ansätze einer weltweiten Zusammenarbeit.

Während der imperialistischen Aufteilung der Welt wurde zwar teilweise an die Kolonialreiche und Besitzungen der frühen Neuzeit angeknüpft, zwischen diesem Kolonialismus und dem Imperialismus bestehen aber grundlegende Unterschiede. Zum einen waren einige alte Kolonialmächte wie Spanien nicht mehr aktiv beteiligt, andere wie Deutschland und die USA kamen dafür neu hinzu. Zum anderen strebten jetzt nicht mehr private Handelskompanien, sondern in erster Linie die Staaten selbst gezielt nach Kolonien. Die Hauptursache des imperialistischen Expansionsdranges lag in den Auswirkungen der Industriellen Revolution, die die Staaten zu ökonomischer Expansion zwang, um Wirtschaftskrisen sowie die damit verbundene Gefährdung der traditionellen Gesellschaftsstrukturen zu vermeiden bzw. zu mildern. Neben den sozialökonomischen Motiven gewann nicht zuletzt das Streben nach Weltmacht und Prestige eine entscheidende Bedeutung.

Sowohl Repräsentanten des Staates und verschiedener Interessengruppen als auch Publizisten und Öffentlichkeit brachten verschiedene Argumente und Motive vor, um die imperialistische Expansion durchzusetzen und zu rechtfertigen. Ob und inwieweit diese imperialistischen Ideologien der einzelnen Staaten vergleichbar sind, soll in dieser Arbeit am Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika und des Deutschen Reiches untersucht werden. Beide Staaten gingen von einer ähnlichen Ausgangslage aus, denn sie waren keine alten Kolonialmächte wie etwa England oder Frankreich; im Falle Deutschlands ist dies auf die vergleichsweise späte Reichseinigung von 1871 zurückzuführen, im Falle der USA darauf, daß sie ursprünglich selbst Teil des englischen Kolonialreiches waren und sich bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in erster Linie auf dem Gebiet der Binnenkolonisation, der Expansion nach Westen, engagierten. Für beide Staaten spielt auch die relativ spät, dafür aber schlagartig einsetzende Industrialisierung eine Rolle, die die Gesellschaft in Deutschland seit 1871, in den USA seit dem Ende des Bürgerkrieges 1865 tiefgreifend veränderte.



2. Die imperialistische Ideologie in Deutschland

"Imperialistische Tendenzen" im Sinne einer positiven Einstellung der deutschen Öffentlichkeit gegenüber Kolonien und überseeischer Expansion gab es schon erhebliche Zeit vor dem tatsächlichen Beginn der deutschen imperialistischen Expansion; sie sind etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der deutschen Publizistik nachzuweisen. Auffällig ist hierbei, daß schon in dieser Zeit die wesentlichen Argumentationslinien - sei es auf wirtschaftlichem Gebiet die Forderung nach der Erschließung von Absatzmärkten für industrielle Produkte und von Siedlungsgebieten für den Bevölkerungsüberschuß, sei es auf gesellschaftspolitischem Gebiet das Ziel, eine Sozialrevolution zu verhindern, sei es die Weltanschauung, als überlegene Rasse zur Weltherrschaft und Zivilisierung bzw. Missionierung der "Eingeborenen" bestimmt zu sein. Insbesondere während der Zeit der Reaktion nach 1848 und der in der Reichsgründung 1871 gipfelnden nationalen Einigung Deutschlands verlor die Kolonialpropaganda zeitweise zwar an Bedeutung, flammte aber im Zuge der 1873 in Deutschland einsetzenden Wirtschaftskrise mit der Forderung nach Kolonien als sicheren Absatzmärkten sofort wieder auf, bis sie seit Ende der siebziger Jahre zum dominierenden Motiv in Publizistik und Öffentlichkeit wurde.

Zu den herausragenden Kolonialpublizisten dieser Zeit gehörte neben dem Juristen Wilhelm Hübbe-Schleiden und dem Rittergutsbesitzer Ernst von Weber vor allem der Missionsleiter Friedrich Fabri, der mit seiner Schrift "Bedarf Deutschland der Kolonien?" von 1879 großen Erfolg hatte. In dieser Schrift ging Fabri aus von den ökonomischen Problemen in Deutschland, insbesondere dem Bevölkerungswachstum und der Krise von Industrie und Landwirtschaft, und propagierte die Auswanderung in zu erwerbende "Ackerbau-" bzw. Siedlungskolonien als einzig mögliche Lösung, denn die Auswanderung in fremde Staaten wie die USA bedeute einen "für das Mutterland völlig unproduktiven Kräfte-Abfluß" von Arbeitskräften und Kapital: "Wenn aber die industrielle Produktion stockt, Arbeit und Verdienst tief herabsinken, so muß die Calamität der Uebervölkerung immer stärker hervortreten, Nothstand und Pauperismus in rascher Progression sich ausbreiten (...). Die Anwendung des Gesagten auf die gegenwärtige Lage Deutschlands ergibt sich von selbst. (...) [I]m Blick auf unsere deutsche Auswanderung, im Blick auf unsere industrielle und wirthschaftliche Lage könnte (...) eigentlich wohl nur der Unwissende oder der durchaus Voreingenommene leugnen, daß Ackerbau-Colonien dem neuen Deutschen Reich dringend noth seien." Zusätzlich hielt Fabri "tropische" oder Handelskolonien für erforderlich, um Handel, Schiffahrt und insbesondere die Industrie zu unterstützen, denn "wir bedürfen vor Allem der baldigen Wiedergewinnung reichlicher, lohnender und solider Arbeit; wir bedürfen neuer, fester Absatz-Märkte".

Diese wirtschaftliche Argumentation hatte bei Fabri wie bei den übrigen Publizisten seiner Zeit zwar die größte Bedeutung, daneben deutete er aber auch die gesellschaftliche, d.h. nach innen stabilisierende, Dimension der Expansion an, denn es "ist im neuen Reiche Vieles bereits so verbittert, von unfruchtbarem Parteihader versäuert und vergiftet, daß die Eröffnung einer neuen, verheißungsvollen Bahn nationaler Entwicklung wohl auf Vieles wie befreiend, weil den Volksgeist nach neuen Seiten mächtig anregend, zu wirken vermöchte." Deutlicher noch als Fabri betonte Ernst v. Weber, daß die Kolonialexpansion nicht zuletzt auch vor den "Giftpflanzen der sozialistischen Wühlereien" schützen sollte: "Werden nicht sowohl für unseren alljährlich so ungeheuern Bevölkerungszuwachs wie für die Überproduktion der deutschen Arbeit regelmäßig weite Abzugskanäle geschaffen, so treiben wir mit Riesenschritten einer Revolution entgegen, die dem Nationalwohlstande auf lange Zeit die tiefsten Wunden schlagen wird." Der scheinbaren Staatsgefährdung durch die Sozialdemokratie hoffte man einerseits beizukommen durch die erhoffte Milderung der Wirtschaftskrise infolge von Kolonialerwerbungen, andererseits durch die von der inneren Situation ablenkende und integrierende Wirkung der imperialistischen Ideologie. Neben Publizisten wie Fabri vertraten auch Repräsentanten der deutschen Wirtschaft und die seit Ende der siebziger Jahre entstehenden Kolonialvereinigungen diese wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Argumentationen, die damit also auf einem breiten ideologischen Konsens beruhten: "Dieser Konsensus erhielt Übereinstimmung über die Notwendigkeit der überseeischen Expansion aus vornehmlich sozialökonomischen Motiven und aus Rücksicht auf die Stabilität einer bestimmten politischen Ordnung. Er begründete und forderte den modernen Wirtschafts- und Sozialimperialismus."

Im Unterschied zu den Kolonialpropagandisten der wilhelminischen Zeit spielten dagegen Träume von einer deutschen Weltmacht oder Weltpolitik eine noch geringe und umstrittene Rolle. So lehnte Fabri machtpolitische Argumente für die Erwerbung von Kolonien gänzlich ab, denn "die Colonial-Frage ist für uns überhaupt keine politische Machtfrage", wohingegen beispielsweise Wilhelm Hübbe-Schleiden schon 1881 behauptete: "Überseeische Politik allein vermag auch den Grund zu legen für eine Weltmacht Deutschlands!"

Otto v. Bismarck hatte - zunächst als preußischer Ministerpräsident, ab 1871 auch als Reichskanzler - seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Förderung des Exports von Industrieprodukten durch Maßnahmen im Rahmen einer Freihandelspolitik als vorrangige staatliche Aufgabe betrachtet. Die 1882 nach einer kurzen Erholungsphase wieder aufflammende Wirtschaftskrise und fortdauernde Schwierigkeiten mit den Sozialdemokraten veranlaßten ihn dazu, die in diese Richtung zielende Politik erneut zu intensivieren: "Wollen wir Nichts thun für die Seefahrt, die Arbeit, die Erhaltung unseres Exports, zur Vorbeugung von Nahrungslosigkeit im Lande wegen Mangel an Export und Mangel an Arbeit? Wollen wir nicht vielmehr jedes Mittel wählen, die Ausfuhr zu fördern, auch solche Mittel, für deren Rentabilität wir nicht vorher den Beweis liefern können, an die wir aber glauben?" Angesichts des in den achtziger Jahren wachsenden öffentlichen Drucks zugunsten einer aktiven Kolonialpolitik und einer Teilnahme am "scramble for Africa" gelangte er zu der Auffassung, "daß die Kolonialfrage (...) aus Gründen der inneren Politik eine Lebensfrage für uns ist. (...) Die öffentliche Meinung legt gegenwärtig in Deutschland ein so starkes Gewicht auf die Kolonialpolitik, daß die Stellung der Regierung im Innern von dem Gelingen derselben wesentlich abhängt."

Während er seine prinzipielle Ablehnung einer formellen staatlichen Territorialherrschaft weiterhin aufrechterhielt, befürwortete Bismarck daher nun die lockere Schutzherrschaft zur Unterstützung kaufmännischer Initiativen. "Er habe sich schon früher dagegen ausgesprochen und sei auch heute noch der Ansicht, daß es für uns nicht richtig sein würde, Landstriche, wo wir noch keine Interessen haben, zu occupiren, um dort künstlich eine deutsche Einwanderung hervorzurufen (...). Etwas Anderes aber sei es, die aus der deutschen Nation gewisser Maßen herauswachsenden freien Ansiedelungen von Reichsangehörigen (...) unter den Schutz des Reichs zu stellen. Er halte es für eine Pflicht des Reichs, den auf diese Art begründeten überseeischen Niederlassungen von Reichsangehörigen, nicht nur ihren Factoreien, sondern auch den von ihnen erworbenen Territorien, mit dem Schutze des Reichs zu folgen." Entsprechend dieser Auffassung gewährte das Deutsche Reich in den Jahren 1884 und 1885 mehreren Handels- und Kolonialgesellschaften Schutzbriefe für die erworbenen Territorien, insbesondere in Afrika. Dabei wurde weiterhin Bismarcks Idealvorstellung des informellen Imperialismus aufrechterhalten, denn die Verwaltung und Regierung der Gebiete sollte diesen Gesellschaften überlassen bleiben, das Reich gewährte nur die Möglichkeit der europäischen Gerichtsbarkeit und den Schutz gegen Angriffe von innen und von anderen europäischen - imperialistischen - Mächten.

In erster Linie begründete Bismarck also den Einstieg in die aktive Weltpolitik mit der Notwendigkeit, die Auswirkungen der Wirtschaftskrise einzuschränken, mithin als Teil einer "Außenhandelspolitik als Feld antizyklischer Konjunkturpolitik". Die gesellschaftspolitische Dimension des Imperialismus, die angestrebte Sicherung der Gesellschaftsstrukturen und seiner eigenen Regierung, hat er dagegen nur angedeutet.

In der Praxis stellte sich bald heraus, daß Bismarcks freihändlerische Konzeption einer von Kaufleuten getragenen Kolonialpolitik aufgrund von deren Zurückhaltung zum Scheitern verurteilt war, zumal auch die wirtschaftlichen Erfolge geringer waren als erwartet. Nach den Erwerbungen von 1884/1885 verfolgte der Reichskanzler diesen Weg der Politik dementsprechend nicht weiter. Die Agitation der an einer imperialistischen Expansion interessierten Kreise lief jedoch weiter, jetzt insbesondere getragen von kolonialen und nationalistischen Interessenverbänden wie der Deutschen Kolonialgesellschaft und dem Alldeutschen Verband, und zusätzlich unterstützt von namhaften Publizisten wie dem Soziologen Max Weber.

Ohne daß die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Seite des Imperialismus aus der Argumentation verschwand, wurden in der wilhelminischen Zeit die auf dem Sozialdarwinismus und verwandten Ideologien beruhenden Vorstellungen von einer Überlegenheit des deutschen Volkes über alle anderen Völker und Rassen zum dominierenden Motiv. Zum einen ergab sich daraus das Sendungsbewußtsein, also die Absicht, den übrigen Völkern die Werte von "Deutschtum" und Christentum zu übermitteln, was auch der Begründung und Rechtfertigung der Erwerbung von Kolonien diente. So vertrat der Alldeutsche Verband die Auffassung, "daß unser Volk, indem es die Erhaltung und Ausbreitung deutschen Geistes auf der Erde betreibt, damit am wirksamsten auch den Bau der Weltgesittung fördert. Denn unsere deutsche Kultur bedeutet den idealen Kern menschlicher Denkarbeit, und jeder Schritt, welcher für das Deutschtum errungen wird, gehört demnach der Menschheit als solcher und der Zukunft unseres Geschlechts." Zum anderen übertrug nun beispielsweise Max Weber Charles Darwins Konzeption vom "Kampf ums Dasein" auf die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Völkern und leitete die Folgerung ab, "daß das unumgängliche handelspolitische Ausdehnungsbestreben aller bürgerlich organisierten Kulturvölker (...) sich jetzt mit völliger Sicherheit dem Zeitpunkt wieder nähert, wo nur die Macht über das Maß des Anteils der Einzelnen an der ökonomischen Beherrschung der Erde und damit über den Erwerbsspielraum ihrer Bevölkerung, speziell auch ihrer Arbeiterschaft, entscheiden wird."

Davon ausgehend, daß das deutsche Volk in diesem Kampf notwendig Sieger bleiben müsse, um nicht unterzugehen, und aufgrund seiner Vergangenheit und derzeitigen Stellung in Europa gerade zu dazu verpflichtet war, nach dem Weltmachtstatus zu streben, forderte z.B. der Alldeutsche Verband, "unserm Volk die Weltstellung zu gewinnen, wie sie seinem Rang als europäischer Großmacht entspricht", wozu er durch die "Förderung einer thatkräftigen deutschen Interessenpolitik in Europa und über See" beizutragen beabsichtigte. In ähnlicher Weise formulierte Max Weber in seiner berühmten Freiburger Antrittsrede von 1895 die Forderung nach einer deutschen Weltpolitik als Fortsetzung der Reichseinigung, also als Macht- und Prestigefrage: "Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte. (...) Es wird uns nicht gelingen, den Fluch zu bannen, unter dem wir stehen: Nachgeborene zu sein einer politisch großen Zeit, - es müßte denn sein, daß wir verstünden, etwas anderes zu werden: Vorläufer einer größeren".

Nachdem das Ausdehnungsbestreben zwölf Jahre lang zwar in der Publizistik eine Rolle gespielt, nicht aber zu konkreten politischen Ergebnissen geführt hatte, erfolgte 1897 der erneute Übergang zu überseeischer Expansions- und "Welt-"politik mit der Besetzung und späteren Pachtung des chinesischen Hafens Tsingtao. Zur Begründung dieses Schrittes führte der damalige Staatssekretär des Auswärtigen und spätere Reichskanzler, Bernhard v. Bülow, in seiner Rede am 6.12.1897 in erster Linie ökonomische Argumente an, denn angesichts der drohenden Aufteilung des als zukunftsträchtiger Markt betrachteten China in Interessensphären der einzelnen imperialistischen Mächte hielt er es für entscheidend, sich gleichwertige Handels- und Exportchancen zu sichern: "Wir müssen verlangen, daß der deutsche Missionar und der deutsche Unternehmer, die deutschen Waaren, die deutsche Flagge und das deutsche Schiff in China geradeso geachtet werden, wie diejenigen anderer Mächte. Wir sind endlich gern bereit, in Ostasien den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, daß unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen gebührende Würdigung finden. Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne."

Im Gegensatz zu den Konzeptionen Bismarcks gingen nun die Ansprüche nicht nur der deutschen Öffentlichkeit, sondern auch der höchsten Repräsentanten des Staates erheblich weiter, und der Besitz von Kolonien galt als Zeichen der deutschen Weltmachtstellung. So wies Bülow in noch moderatem Ton darauf hin, "welche elementaren Triebkräfte, die rasche Zunahme unserer Bevölkerung, der gewaltige Aufschwung unserer Industrie (...) uns in die Weltpolitik hineingeführt haben und überseeische Interessen für uns geschaffen haben. Die Aufgabe unserer Generation ist es, gleichzeitig unsere kontinentale Stellung, welche die Grundlage unserer Weltstellung ist, zu wahren, und unsere überseeischen Interessen so zu pflegen, eine besonnene, vernünftige, sich weise beschränkende Weltpolitik so zu führen, daß die Sicherheit des deutschen Volkes nicht gefährdet (...) wird. Deutlicher wurde Wilhelm II., der die deutsche Öffentlichkeit aufforderte, "sich der festen Überzeugung hinzugeben, daß unser Herrgott sich niemals so große Mühe mit unserem deutschen Vaterlande und seinem Volke gegeben hätte, wenn er uns nicht noch Großes vorbehalten hätte. Wir sind das Salz der Erde." Was damit gemeint war, sagte er an anderer Stelle: "Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden. Überall in fernen Teilen der Erde wohnen Tausende unserer Landsleute. Deutsche Güter, deutsches Wissen, deutsche Betriebsamkeit gehen über den Ozean. Nach Tausenden von Millionen beziffern sich die Werte, die Deutschland auf der See fahren hat."

Die insbesondere vom Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Alfred v. Tirpitz, propagierte und seit 1898 in Angriff genommene Schlachtflotte sollte dabei den deutschen Weltmachtanspruch unterstreichen und realisieren, die Sicherheit des Handels in Übersee gewährleisten und damit die krisengeschüttelte Wirtschaft unterstützen, und nicht zuletzt sollte sie als neuer Integrationspol, als "starkes Palliativ gegen gebildete und ungebildete Sozialdemokraten" dienen. Sie wurde von Bülow, Tirpitz und vor allem auch Wilhelm II. ("bitter not ist uns eine starke deutsche Flotte") proklamiert und von Verbänden wie dem Deutschen Flottenverein mitgetragen, wobei die Ausführungen des amerikanischen Autors A.T. Mahan als Vorbild dienten.

Die Versuche der Jahre zwischen 1897 und 1914, durch Verhandlungen mit den anderen imperialistischen Mächten zu weiteren Kolonialerwerbungen zu gelangen (z.B. "Mittelafrika-"Gedanke), verliefen erfolglos, das Deutsche Reich manövrierte sich im Gegenteil zunehmend in die außenpolitische Isolation der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hinein. Diese Entwicklung jedoch verschärfte nur die Stimmung in der Öffentlichkeit und die Töne in der Propaganda bis hin zu Präventivkriegsüberlegungen und der 1912 von Friedrich v. Bernhardi gestellten Alternative zwischen Weltmacht und Niedergang des Deutschen Reiches. Danach war "das deutsche Volk vom Standpunkt seiner Kulturbedeutung aus voll berechtigt, nicht nur einen Platz an der Sonne zu beanspruchen, wie Fürst Bülow sich bescheiden zu äußern beliebte, sondern einen vollgültigen Anteil an der Beherrschung der Erde weit über die Grenzen seiner jetzigen Einflußsphäre hinaus zu erstreben." Da es keinen "Stillstand (...) in der Völkergeschichte" gebe, bedeute auch ein Verharren auf der jetzigen Position einen Rückschritt, das deutsche Reich sei dazu gezwungen, um die Machterweiterung zu kämpfen, um nicht in die Bedeutungslosigkeit zurückzusinken. Ein Angriffskrieg war damit einkalkuliert, sogar zur Notwendigkeit erklärt.



3. Die imperialistische Ideologie in den Vereinigten Staaten

Die Geschichte und das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten von Amerika sind auf der einen Seite geprägt von einer starken antikolonialistischen und antiimperialistischen Tradition, die sich aus dem Unabhängigkeits- und Freiheitsstreben der ehemaligen britischen Kolonie ergab und erstmals in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 niedergelegt wurde. Auf der anderen Seite sind die Vereinigten Staaten gleichzeitig das Musterbeispiel der "expanding society", denn ihre Geschichte ist die Geschichte einer Expansion, zunächst innerhalb der Grenzen des nordamerikanischen Kontinents, später auch darüber hinaus. Zum dritten spielt auch die aus dem Puritanismus stammende Vorstellung eine Rolle, das amerikanische Volk sei von Gott auserwählt, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Diese Vorstellung fand sich wieder in dem 1845 im Zusammenhang mit der Annexion von Texas geprägten Begriff des "manifest destiny", der das US-amerikanische Selbstverständnis ausdrückte, das eigene Volk sei allen anderen überlegen, seine Ausbreitung und die Ausweitung des Geltungsbereichs demokratischer Institutionen nach amerikanischem Vorbild seien gottgewollt. Entsprechend wurde die territoriale Expansion der Vereinigten Staaten in der Folgezeit häufig mit dieser Vorstellung begründet bzw. gerechtfertigt.m

So führte der Publizist John Fiske aus, daß die englische Rasse im Kampf um den Besitz Amerikas Sieger geblieben sei und die dort begonnene Kolonisation auf der gesamten Welt fortsetzen werde, "bis jedes Land auf der Erdkugel, das noch nicht Träger einer alten Zivilisation ist, in seiner Sprache, seiner Religion, seinen politischen Gewohnheiten und Traditionen englisch sein wird". Mit "englisch" allerdings meinte Fiske hier den amerikanischen Zweig der Angelsachsen, denn die "Rasse, die in diesem Ringen" - um Nordamerika - "den Sieg davontrug, war dazu bestimmt, fortan die Führungsrolle in der Welt zu übernehmen", da sie auch über die zahlenmäßige, militärische und politisch-institutionelle Überlegenheit verfüge. Letztendlich werde die Einigung der Welt unter amerikanischer Führung zu einer Föderation der gesamten Menschheit führen, und dann erst seien echter Friede und echte Zivilisation tatsächlich verwirklicht und gewährleistet.

Stärker prononciert wies Josiah Strong in seinem Buch "Our Country. Its Possible Future and its Present Crisis" 1885 auf die sich vor allem in Nordamerika zeigende Überlegenheit der Angelsachsen hin, was sich aus den natürlichen Vorzügen des Kontinents und der in den Vereinigten Staaten besonders starken Ausprägung der angelsächsischen Charakteristika, insbesondere der Fähigkeit zu kommerziellen Unternehmungen und zur Kolonisation sowie der hohen sozialen Mobilität mit der entsprechenden Energieentfaltung, ergebe. Aus der Entwicklung der Vereinigten Staaten leitete Strong die sozialdarwinistische Folgerung ab, Gott bereite den amerikanischen Zweig der Angelsachsen auf "den Endkampf der Rassen" vor. Dieser sei notwendig, weil die bisherige Westbewegung der Zivilisationen, d.h. die Auswanderung der jeweiligen Bevölkerungsüberschüsse nach Westen, auf dem amerikanischen Kontinent ihr Ende erreicht habe. Ohne Zweifel stand für ihn fest, daß "dieser Wettkampf der Rassen das 'Überleben des Stärksten' zum Ziel hat" und daß dieser "Stärkste" die angelsächsische Rasse sein müsse.

Auf der Grundlage rassischer Superiorität und göttlicher Prädestination waren die USA nach Auffassung dieser Autoren also berechtigt und geradezu verpflichtet, die Welt zu missionieren, mit den Segnungen der amerikanischen Freiheit zu versorgen, gleichzeitig aber auch sich selbst zur führenden Macht in der Welt zu entwikkeln. Die Missionierung hatte dabei auch den - eigennützigen - Zweck, durch den Kontakt fremder, z.B. ostasiatischer, Kulturen mit der westlichen Zivilisation neue Bedürfnisse zu wecken und damit den eigenen Handel zu fördern: "Missionaries are the pioneers of trade and commerce. Civilization, learning, instruction breed new wants which commerce supplies. Look at the electric telegraph now in every province in China but one. Look at the steamships which ply along the coast from Hongkong to Newchang". Eine nicht unbedeutende Rolle spielte auch die Auffassung von der Notwendigkeit ständiger Expansion, weil nur auf diese Weise die Wohlfahrt einer Nation gewährleistete werden konnte. Jegliches Abweichen von diesem Weg, der symbolisiert wurde durch die "frontier" der kontinuierlichen Westbewegung, bedeutete danach Stagnation und letztendlich Niedergang.

Nach dem Ende des Bürgerkrieges 1865 erlebte die Industrie der Vereinigten Staaten einen starken Entwicklungsschub, der insbesondere getragen wurde von Bau der Eisenbahnen und der Industrialisierung und Kommerzialisierung der landwirtschaftlichen Produktion. 1893 brach jedoch eine schwere Wirtschaftskrise aus, deren Ursachen auf der einen Seite in wachsenden Überkapazitäten lagen; auf der anderen Seite trugen das Ende des transkontinentalen Eisenbahnbaus und die symbolträchtige offizielle Schließung der "frontier" im Jahre 1891 zu dem Eindruck bei, die Möglichkeiten, die der nordamerikanische Kontinent für die Menschen geboten hatte, seien plötzlich drastisch eingeschränkt, und verschärfte somit die aus der Wirtschaftskrise resultierenden sozialen Spannungen. Daraus ergab sich die immer mehr an Boden gewinnende Überzeugung, eine neue "frontier" in Übersee müsse geschaffen werden, die ökonomische Expansion als Gewinnung von Absatzmärkten für die überschüssigen Produkte, sei von größter Notwendigkeit für die Stabilität der Wirtschaft ebenso wie der Gesellschaftsordnung. So stellte S.O. Thacher im April 1885 vor einem Senatsausschuß fest: "In allen Bereichen der Wirtschaft wird heute mehr produziert, als konsumiert werden kann. (...) Mehr als jemals zuvor hängen unser zukünftiges Wachstum, der innere Frieden und die Stabilität unserer inneren Ordnung davon ab, daß wir neue Konsumenten für unsere Produkte finden. Ziel (...) ist der Versuch, unseren landwirtschaftlichen und industriellen Produzenten einen angemessenen Markt zu verschaffen."

Traditionell war Lateinamerika das Feld, auf dem man zunächst diese Märkte zu erringen suchte. Ende des 19. Jahrhunderts trat dieses Interessengebiet aber gegenüber dem Pazifikraum, insbesondere China, zurück, denn die Absatzmöglichkeiten in dieser Region schienen unermeßlich zu sein, der Anteil daran entscheidend für die zukünftige Rolle einer Nation in der Weltwirtschaft. Daß die USA dazu bestimmt waren, die ökonomische Weltherrschaft zu übernehmen, und darum kämpfen sollten, sie aufrechtzuerhalten, gehörte ebenfalls zu den gängigen Vorstellungen dieser Zeit und wurde beispielsweise von dem Historiker Brooks Adams vertreten: "Die Union bildet ein gigantisches, mächtig wachsendes Reich, das sich über die halbe Erdkugel erstreckt, ein Imperium, das über die größte Masse akkumulierten Reichtums verfügt (...) und das (...) mächtigste industrielle System, das je zur Entwicklung gekommen ist. (...) [Die Vereinigten Staaten] sind das Herz des ökonomischen Systems der Epoche geworden, und mit Macht und Geisteskraft müssen sie ihre Vormachtstellung aufrechterhalten, oder es harrt ihrer das Schicksal derer, die ausgeschaltet werden."

Wie allerdings diese Ziele - Marktexpansion, gipfelnd in der wirtschaftlichen Vorherrschaft auf der gesamten Welt - erreicht werden sollten, war in der amerikanischen Öffentlichkeit umstritten. Die Vorstellungen umfaßten sämtliche Spielarten des Imperialismus von der informellen ökonomischen Durchdringung bis zur formellen Erwerbung von Kolonien. Die Befürworter der ersten Methode unterstrichen vor allem die auf diese Weise mit dem geringsten Aufwand zu erreichenden Vorteile: "We secure freedom and equal protection for the persons of Americans (...), for their property, and for the pursuit of their professions and enterprises of every sort. We gain security for the American missionaries, churches, and schools, (...) and absolute liberty of commerce and freedom of worship. (...) In a word, we gain everything which we could gain by owning the country, except the expense of governing it." Auch die Propagandisten der formellen Territorialexpansion verfolgten nicht in erster Linie das Ziel, bei der imperialistischen Aufteilung der Welt einen adäquaten Anteil, Kolonien also als Prestige- und Machtobjekt zu erwerben, sondern sie betrachteten koloniale Besitzungen ebenfalls als Mittel zum Zwecke der Marktausweitung. Herausragendes Beispiel dafür ist Alfred T. Mahan, der den Ausbau der Handelsmarine für die Unterstützung des amerikanischen Exports für notwendig hielt und daraus die Forderungen nach einer Schlachtflotte zum Schutz der Handelsmarine sowie nach Kolonien als Flottenstützpunkten ableitete: "In allen diesen Punkten - Produktion, verbunden mit der Notwendigkeit des Warenaustauschs; Schiffahrt, mit deren Hilfe sich dieser Austausch vollzieht; und schließlich Kolonien, welche die Operationen der Schiffahrt ermöglichen (...) - liegt der Schlüssel zu einem Großteil der Geschichte und Politik der Nationen, welche an den Küsten der Weltmeere leben."

Teilweise wurden die wirtschaftlichen Motive auch mit dem amerikanischen Sendungsbewußtsein verknüpft, wobei diese Kombination auch in der calvinistisch-puritanischen Auffassung des engen Zusammenhangs von Wirtschaft und Moral, von Wohlstand und Auserwähltheit begründet lag. So fragte Senator Albert J. Beveridge im September 1898: "Haben wir" - d.h. die Vereinigten Staaten - "nicht eine Mission zu erfüllen, nicht die Pflicht, unseren Mitbürgern zu helfen? Hat Gott uns nicht mit Gaben beschenkt, die jenseits unseres Verdienstes liegen, und hat er uns nicht als das Volk seiner besonderen Gunst erwählt (...)?" Die Mission der USA umfaßte für ihn auf der einen Seite die Ausdehnung der Absatzmärkte für die amerikanischen Waren, die den eigenen Bürgern zugute kommen sollte ("möge es Gott gefallen, neue Märkte für das, was unsere Schiffe transportieren, zu schaffen"), auf der anderen Seite die Ausdehnung des Geltungsbereichs amerikanischer Institutionen zugunsten fremder Völker: "Sollen freie Institutionen in dem Maße ihre gesegnete Herrschaft erweitern, in welchem Kinder der Freiheit an Stärke gewinnen, bis die Macht unserer Prinzipien sich die Herzen der gesamten Menschheit erobert hat?"

Nachdem die USA schon seit dem Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts mehrfach während Krisensituationen in Lateinamerika eingegriffen bzw. auch mit militärischen Aktionen gedroht hatten, führte die Intervention im Bürgerkrieg auf der damals spanischen Insel Kuba im Jahre 1898 schließlich erstmals zu einer offenen militärischen Auseinandersetzung mit einer anderen Kolonialmacht, dem spanisch-amerikanischen Krieg, und letztendlich zur Erwerbung von Kolonien, denn die Vereinigten Staaten nahmen Kuba, die Philippinen sowie einige kleinere Pazifikinseln in ihren Besitz. Der amerikanische Präsident McKinley begründete die Intervention zum einen mit dem "schweren Schaden (...), den Handel und Wirtschaft unseres Volkes erlitten haben" und der damit verbundenen Pflicht der amerikanischen Regierung, "unseren Bürgern in Kuba den Schutz und die Unversehrtheit von Leben und Eigentum zu garantieren" - mithin den amerikanischen Interessen in Kuba; zum anderen aber führte er auch an, es gehöre im Interesse der kubanischen Einwohner zu den Pflichten der USA, "der Barbarei (...) unmittelbar vor unserer Haustür" ein Ende zu setzen.

Die bei den Friedensverhandlungen festgelegte endgültige Übernahme der Philippinen erklärte sich aus ihrer Bedeutung als strategisch wichtiger Stützpunkt auf dem Weg nach Ostasien, dem nach amerikanischer Auffassung entscheidenden Markt der Zukunft: "Der Archipel (...) ist das Sprungbrett für die Begründung vorrangigen Einflusses und politischer, wirtschaftlicher und militärischer Überlegenheit im Fernen Osten. (...) Der Besitz des Philippinischen Archipels ist (...) für die Fortentwicklung nationaler amerikanischer Interessen absolut unentbehrlich." Zusätzlich zu diesen vornehmlich ökonomischen Vorteilen, die die Philippinen bieten sollten, betonte McKinley die von Gott auferlegte Verpflichtung zur Zivilisierung, begründete die imperialistische Expansion also mit dem amerikanischen Sendungsbewußtsein und Missionierungsauftrag: die USA dürften "nicht vergessen, daß der Krieg uns gegen unseren Wunsch und unsere Absichten neue Pflichten und Verantwortlichkeiten auferlegt hat, denen wir uns stellen müssen, wie es einer großen Nation geziemt, deren Wachstum und Aufstieg von Beginn an durch Gott die Bestimmung zu höchster Macht und die Verpflichtung zu zivilisatorischer Tat erhalten hat." Dem entsprach die Auffassung, es mit einem halbbarbarischen Volk zu tun zu haben, das nicht zum Aufbau eines demokratischen Staatswesens nach amerikanischem Vorbild fähig sei. "Das Gesetz der Freiheit, wonach jede gerechte Regierung ihre Autorität von der Zustimmung der Regierten ableiten muß, gilt nur für diejenigen, die zur Selbstregierung fähig sind."

Grundsätzlich allerdings galt weiterhin die Bevorzugung des informellen Wirtschaftsimperialismus, der insbesondere in China, dem eigentlichen Ziel der Bemühungen, aufrechterhalten und gegen die Aufteilungsabsichten der übrigen imperialistischen Mächte verteidigt wurde. So postulierte der US-Außenminister John Hay in mehreren Zirkularnoten das Prinzip der "Offenen Tür", das die Forderung nach gleichen Wirtschaftschancen für alle imperialistischen Nationen, die Verhinderung der Bildung von Interessensphären, wie sie ansatzweise in China schon entstanden, und damit die Aufrechterhaltung der territorialen Integrität Chinas, beinhaltete.

Das Prinzip der ökonomischen Durchdringung schloß dennoch einen sehr weitgehenden Einfluß auf formell unabhängige Staaten, insbesondere in Lateinamerika, nicht aus, wie er in Roosevelts Erweiterung der Monroe-Doktrin vom 6.12.1904 zum Recht der Vereinigten Staaten erklärt wurde. Die Interessen der USA und der lateinamerikanischen Staaten seien im Prinzip identisch, und solange diese Staaten "den Grundgesetzen der zivilisierten Gesellschaft Folge leisten, dürfen sie sicher sein, mit herzlicher und hilfreicher Sympathie behandelt zu werden." Wenn aber "ihre Unfähigkeit und Unwilligkeit, im eigenen Land für Recht und Ordnung zu sorgen und den Rechten des Auslands Geltung zu verschaffen, zur Verletzung von Rechten der Vereinigten Staaten führen oder zum Schaden aller amerikanischen Nationen Anlaß für eine ausländische Aggression abzugeben drohen", seien die USA berechtigt, in deren Angelegenheiten einzugreifen. "In der westlichen Hemisphäre kann das Festhalten der Vereinigten Staaten an der Monroedoktrin diese, wenn auch widerstrebend, dazu zwingen, in offensichtlichen Fällen von Rechtsbruch und Unfähigkeit die Rolle einer internationalen Polizeimacht zu übernehmen." In Anwendung dieses "Roosevelt-Corollary" intervenierten die Vereinigten Staaten in den folgenden Jahren mehrfach in Lateinamerika, so z.B. 1907 durch die Übernahme der völligen Finanzkontrolle über die verschuldete Dominikanische Republik.

Insgesamt waren Kolonien für die Vereinigten Staaten, abgesehen von ihrem strategischen Stellenwert als Stützpunkte auf dem Weg nach Asien, von relativ geringer Bedeutung; entscheidender war, daß die USA ihren Weltmachtanspruch mit dem Verweis auf göttliche Prädestination anmeldeten und auch durchsetzten. "We have no choice, we people of the United States, as to whether or not we shall play a great part in the world. That has been determined for us by fate, by the march of events. We have to play that part."



4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Bei einer Gegenüberstellung der deutschen und der amerikanischen Argumentationsmuster zur Propagierung imperialistischer Expansion zeigt sich deutlich, daß diese in den Grundlinien übereinstimmen. In beiden Fällen können die Argumentationen zwei großen Komplexen zugeordnet werden; der erste dieser Komplexe umfaßt die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen, der zweite die im kulturellen und ideologischen Bereich angesiedelten Motive.

Sowohl im Deutschen Reich als auch in den Vereinigten Staaten hatte die Öffentlichkeit eine Expansion schon erhebliche Zeit vor dem Eintritt in den Kreis der imperialistischen Mächte befürwortet, doch aus unterschiedlichen Gründen. Für die Amerikaner war ständige Expansion conditio sine qua non, Teil des eigenen "manifest destiny" und der eigenen Tradition; der Übergang zum Imperialismus war daher trotz der antikolonialistischen Grundhaltung der Vereinigten Staaten relativ leicht möglich. "[O]ne fact clearly emerged (...) that by 1890, the United States were politically, socially, and economically prepared to accept the blessings - and burdens - of imperialism. All that was wanting was the proper time and circumstance". Deutschland dagegen besaß keine derartige Expansionstradition, hatte seit dem Mittelalter keine Gebiete mehr kolonisiert. Daß hier trotzdem vor der Erwerbung von Kolonien eine imperialistische Ideologie entstand, daß im Gegenteil die Kolonialexpansion nicht zuletzt auch auf die Existenz einer solchen Ideologie zurückzuführen war, lag in der wachsenden Überzeugung begründet, die Expansion sei aus wirtschaftlichen Gründen zweckmäßig und notwendig.

Die Zeit zwischen 1873 und 1896, von den Zeitgenossen als "Große Depression" bezeichnet, war nicht die Zeit einer ununterbrochenen Wirtschaftskrise, aber eines in sämtlichen Industriestaaten deutlich geschwächten Konjunkturverlaufs mit immer wieder ausbrechenden Krisen, geprägt von Überproduktion und Unterkonsumption. Das galt in Deutschland insbesondere nach dem "Gründerkrach" von 1873, in den USA verstärkt seit 1893, nach dem Ende von "frontier" und Eisenbahnbau. Wie schwerwiegend diese Krisen empfunden wurden und wie dringend das Bedürfnis nach einem Ausweg war, zeigt sich darin, daß in beiden Staaten in praktisch jeder Äußerung zu Kolonien und zu imperialistischer Expansion allgemein auf die Notwendigkeit der Gewinnung von Absatzmärkten hingewiesen wurde; die Zitate sind austauschbar, ob nun Friedrich Fabri behauptete, daß "wir (...) neuer, fester Absatzmärkte [bedürfen]", oder S.O. Thacher sich aussprach für den "Versuch, unseren landwirtschaftlichen und industriellen Produzenten einen angemessenen Markt zu verschaffen." Die Verantwortlichen in den USA hielten es dabei ebenso wie Bismarck in der ersten Phase der deutschen Kolonialpolitik für erstrebenswert, sich so weit wie möglich auf die ökonomische Durchdringung zu beschränken, Kolonien galten nur als Mittel zum Zweck. Im Falle Deutschlands kam neben der Suche nach Absatzmärkten die Tatsache hinzu, daß man auf einen Abfluß des immensen Bevölkerungswachstums der letzten Jahrzehnte angewiesen war und dafür nach Siedlungskolonien suchte, um die Auswanderung nach Amerika einzudämmen. In den Vereinigten Staaten spielte dieser Faktor überhaupt keine Rolle, da auch nach der Schließung der "frontier" immer noch genügend Land zur Besiedelung innerhalb der eigenen Grenzen zur Verfügung stand.

Die wirtschaftlichen Probleme, die damit verbundene Arbeitslosigkeit etc. führten in beiden Länder zu wachsender innerer Unruhe und einer potentiellen Gefährdung der Gesellschaftsordnung. Diese Gefährdung abzumildern durch konkrete Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage ebenso wie durch die Eröffnung neuer Perspektiven, war in Deutschland wie in den USA eines der Hauptziele, die mit dem Imperialismus erreicht werden sollten. In den seltensten Fällen allerdings wurde diese sozialimperialistische Zielsetzung auch offen zur Begründung und Rechtfertigung des Imperialismus genannt; allenfalls deutete man sie mit wenigen Worten an, wie dies etwa Bismarck tat, für den die Kolonialfrage "aus Gründen der inneren Politik eine Lebensfrage" für das Deutsche Reich war, oder auf Seiten der Vereinigten Staaten S.O. Thacher, der die Notwendigkeit überseeischer Absatzmärkte für die "Stabilität unserer inneren Ordnung" betonte.

Die zweite Gruppe von Argumenten kann umschrieben werden mit Sozialdarwinismus, Sendungsbewußtsein und Weltmachtstreben. Amerikaner wie Deutsche gingen davon aus, daß sie das jeweils überlegenste, höchstentwikkelte und zivilisierteste Volk seien. Auf seiten der Vereinigten Staaten wurzelte diese Überzeugung vor allem in der eigenen Geschichte, im Stolz auf "God's own Country" und die erste moderne Demokratie der Welt. In Fortführung des puritanischen Sendungsbewußtseins lag es daher auch im amerikanischen Selbstverständnis, diese Segnungen der eigenen Zivilisation weiterzugeben an andere Völker. Andersherum konnte aber auch ein Verstoß gegen diese Moral- und Wertvorstellungen eine Intervention rechtfertigen, wie es im Falle des spanisch-amerikanischen Krieges geschah, als McKinley den Eingriff auf Kuba mit des "Barbarei (...) unmittelbar vor unserer Haustür" begründete. Auch in Deutschland war man allgemein der Überzeugung, die eigene Nation sei insbesondere aufgrund ihrer Geschichte und Kultur den übrigen Nationen und Völkern überlegen. Das sich daraus ergebende Sendungsbewußtsein war jedoch weniger stark ausgeprägt als im Falle der Vereinigten Staaten und findet sich nur in vereinzelten Äußerungen beispielsweise des Alldeutschen Verbandes, der behauptete, daß "unsere deutsche Kultur (...) den idealen Kern menschlicher Denkarbeit" bedeute und dementsprechend zugunsten der gesamten Menschheit zu verbreiten war. Größere Bedeutung neben dieser "idealistischen" Variante hatte für die Deutschen aber die sozialdarwinistische Auffassung, der "Kampf ums Dasein" sei unvermeidlich, und das eigene Volk müsse zu den Siegern gehören, da die Alternative den Untergang bedeute. Da die Konzeptionen sehr gut zusammenpaßten, übernahmen auch amerikanische Publizisten und Politiker diese europäische Vorstellung des Sozialdarwinismus, die Ende des 19. Jahrhunderts sämtliche imperialistischen Mächte vertraten. Sie entsprach der amerikanischen Wirtschaftsordnung ebenso wie der Überzeugung von der eigenen Überlegenheit, die nun auf eine rassische, quasiwissenschaftliche Grundlage gestellt werden konnte. Entsprechend argumentierten John Fiske und Josiah Strong, die Angelsachsen und speziell deren amerikanische Vertreter seien diejenigen, die im "Wettkampf der Rassen" überleben und die Erde unter ihre Vorherrschaft bringen würden. Den Status einer Weltmacht für sich für gerechtfertigt, sogar für selbstverständlich zu halten und zu beanspruchen, war die konsequente Fortsetzung dieser Denkweise, eine Durchsetzung aufgrund der Stellung als Hegemonialmacht auf dem eigenen Kontinent nicht sonderlich schwierig. Das Roosevelt-Corollary, der Anspruch auf die Rolle als "internationale Polizeimacht", und die sich darauf gründenden Interventionen der folgenden Jahre, war nur der Auftakt.
Anders als die Amerikaner standen die Deutschen immer unter dem Druck, "den Fluch zu bannen, (...) Nachgeborene zu sein einer politisch großen Zeit", sie befürchteten also in einer Art Torschlußpanik, nach vollbrachter Reichseinigung nun in die Bedeutungslosigkeit zurückzusinken, weil man bei der Aufteilung der Welt zu spät gekommen war und nicht genügend Kolonien hatte erwerben können. Die ständigen Proklamationen des deutschen Weltmachtstatus z.B. durch Wilhelm II. ("Aus dem Deutschen Reiche ist ein Weltreich geworden.") und die Ungeschicklichkeit der Versuche, einen derartigen Status in Konkurrenz zu den übrigen europäischen Mächten zu realisieren, hatten allerdings gegenteilige Auswirkungen und führten letztendlich mit zum Ersten Weltkrieg.

Insgesamt also haben die Vereinigten Staaten und das Deutsche Reich ihren Übergang zum Imperialismus mit vergleichbaren Argumenten begründet. Als "Eckpunkte" der imperialistischen Argumentation dienten in beiden Fällen, so kann zusammenfassend festgestellt werden, die Suche nach Außenmärkten, der Versuch einer Stabilisierung der Gesellschaftsordnung, das Sendungsbewußtsein und das Streben nach Weltmacht. Auf wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Gebiet sind die Äußerungen sogar weitgehend austauschbar, da beide Staaten von einer ähnlichen Ausgangslage ausgingen. Auf dem Gebiet der Weltanschauungen liegen die Schwerpunkte etwas unterschiedlich; die Amerikaner waren erheblich stärker davon überzeugt, die Rolle als Weltmacht und Missionar im Auftrag von Freiheit und Demokratie sei ihnen von Gott bestimmt, während das deutsche Weltmachtstreben insbesondere auf die Angst zurückzuführen ist, eben diesen Status als Weltmacht nicht zu erhalten bzw. zu verlieren.



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